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Süden und das verkehrte Kind

Süden und das verkehrte Kind

Titel: Süden und das verkehrte Kind
Autoren: Friedrich Ani
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sah mich mit einem Ausdruck von Erwartung und, wie mir schien, ein wenig Herablassung an.
    »Warst du wieder bei deiner Mutter?«, sagte ich.
    »Ja«, sagte er. »Aber ich hab nicht mit ihr gesprochen.«
    »Was hast du dann im Krankenhaus getan?«
    »Ich hab sie angesehen, das hat mir gereicht.«
    »Hat sie dich bemerkt?«
    »Klar!«
    »Wie geht es ihr?«
    »Schlecht.« Als würde er aus dem Stand kopfüber in eine Schlucht springen, verfiel er in ein jähes Schweigen, das mindestens fünf Minuten dauerte. Währenddessen versuchte ich, den Burger zu essen, er schmeckte mir sogar, doch ich hatte keinen Hunger. Fabian starrte sein Tablett an, ohne jede Bewegung. Ich sah, wie Freya auf ihrem Block den Zustand des Jungen beschrieb.
    »Du kommst einfach nicht mit deinen Eltern zurecht«, sagte ich.
    »Na und?«
    »Wir müssen deine Schwester finden, Fabian«, sagte ich. Er bückte sich und hob die Plastiktüte eines Supermarktes vom Boden auf, in der er etwas mitgebracht hatte. Einen Moment zögerte er, bevor er die Hand hineinsteckte. Das Rascheln kam mir laut und bedrohlich vor.
    Fabian stellte einen blassblauen Turnschuh auf sein Tablett. Der Schuh hatte einen Klettverschluss. Ich hatte den Schuh nie zuvor gesehen und erkannte ihn dennoch sofort.
    »Kann ich die Tüte haben?«, sagte ich fast automatisch.
    Fabian reichte sie mir und ich legte sie zwischen Freya und mich auf die Bank.
    Alle drei betrachteten wir den Turnschuh, der schwarze Schlieren an der Seite aufwies. Er stand neben den Fritten und der Cola wie ein Werbegeschenk. Und nicht wie ein grausames Almosen des Allmächtigen.
    »Was war für dich das Schlimmste in deiner Kindheit?«, sagte ich. »Als du ungefähr so alt warst wie deine Schwester.«
    Und Fabian ließ seine Hand in den Turnschuh gleiten.
    »Dass ich nicht dabei war, als sie geheiratet haben.«
    »Als deine Eltern geheiratet haben«, sagte ich.
    »Ich war nicht dabei«, sagte Fabian. »Sie sind ohne mich aufs Standesamt gefahren.«
    »Warum?«
    »Ich hab sie nicht gefragt.«
    »Warum hast du sie nicht gefragt?«
    »Ist doch egal jetzt.«
    »Aber es ist immer noch das Schlimmste, woran du dich erinnerst«, sagte ich.
    Fabian zog die Hand aus dem Schuh und steckte sie in die Tasche seines Anoraks, den er anbehalten und dessen Reißverschluss er nicht aufgezogen hatte.
    »Was glaubst du, warum haben dich deine Eltern zu ihrer Trauung nicht mitgenommen?«
    »Wahrscheinlich haben sie sich geschämt.«
    »Vor dir?«
    »Vor sich selber vielleicht«, sagte er heftig und kniff wieder die Augen zusammen, drehte rasch den Kopf zum Fenster und starrte dann auf das Tablett mit den kalt gewordenen Fritten.
    »Wie alt warst du da?«, sagte ich.
    »Sechs.«
    »So alt wie deine Schwester heute ist.«
    »Ich hab in meinem Zimmer gewartet, bis sie zurückgekommen sind«, sagte er. »Dann sind wir zum Essen gegangen.«
    »Und du hast sie nicht gefragt, warum sie dich nicht mitgenommen haben?«
    Nach einer Weile schüttelte er den Kopf.
    »War sonst jemand dabei?«
    »Meine Großeltern.«
    »Und du warst allein zu Hause?«
    »Oma Traudl war da«, sagte er und wischte sich ruppig über den Mund. »Meine Großmutter Waltraud. Die hat auf mich aufgepasst. Die anderen waren weg.«
    »Weißt du noch, was du gegessen hast?«
    »Wann?«
    »Beim Mittagessen«, sagte ich. »Mit deinen Eltern.«
    »Ist doch egal jetzt.« Fabian sah auf seine große glänzende Armbanduhr.
    »Du musst deine Eltern fragen, warum sie dich nicht mitgenommen haben.«
    »Wozu denn?«
    »Damit der Schmerz aufhört«, sagte ich.
    Er drehte sich zur Seite und schaute hinunter auf die Straße, wo in diesem Moment zwei Trambahnen aneinander vorbeifuhren. Durch die isolierten Fenster drangen kaum Geräusche herein.
    »Der hört sowieso nicht auf«, sagte Fabian leise.
    Sofort beugte sich Freya vor, um bei der ununterbrochenen Musikbeschallung besser hören zu können. Ich nickte ihr zu, um ihr zu versichern, ich würde schon aufpassen, was der Junge sagte.
    »Ich hab gesehen, dass Sie ihr ein Zeichen gegeben haben«, sagte Fabian.
    »Ja«, sagte ich. »Aber ich habe dich verstanden.«
    Wieder sagte er einige Minuten lang nichts. Dann nahm er die Hand aus der Anoraktasche und legte beide Hände wie vorhin neben das Tablett, flach auf den Tisch, als wolle er zeigen, wie sauber seine Fingernägel waren.
    »Die haben mich nicht gebraucht«, sagte Fabian und sah mich an und wieder weg und zwischen mir und Freya hindurch. »Die waren nicht verheiratet, als ich
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