Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Süden und das verkehrte Kind

Süden und das verkehrte Kind

Titel: Süden und das verkehrte Kind
Autoren: Friedrich Ani
Vom Netzwerk:
geboren wurde, und dann haben sie gedacht, sie müssen jetzt doch heiraten. Wahrscheinlich wollten das meine Großeltern so. Außerdem war meine Mutter schwanger, das hab ich aber nicht gewusst. Sie haben wegen Nasti geheiratet. Nicht wegen mir. Als Nasti auf die Welt gekommen ist, hat sie richtige Eltern gehabt, keine unechten wie ich. Wegen ihr haben sie geheiratet. Aber mitnehmen hätten sie mich schon müssen. Die hätten mich nicht allein lassen dürfen, bei der Oma, die ich sowieso nicht mochte. Die hat immer alles besser gewusst, auch bei meinem Vater, der hat das auch nicht ausgehalten. Wieso haben die mich nicht mitgenommen zum Heiraten? Die sind mit dem Auto weggefahren und ich bin an der Tür gestanden. Sie haben gesagt, es dauert nicht lange, ich bin dann wieder reingegangen und hab irgendwas gespielt. Weiß nicht mehr, was. Meine Oma hat irgendwas erzählt, das weiß ich noch. Oder sie hat mir was vorgelesen, sie wollt mich ablenken, sie hat geglaubt, ich merk das dann weniger, dass meine Eltern jetzt heiraten und ich bin nicht dabei. Die hat mich für blöd verkauft. Ich werd oft für blöd verkauft. Egal ist das. Das ist praktisch, wenn die Leute denken, sie können mich austricksen, doch ich durchschau sie. Aber ich sag nichts. Nie. Ich behalt alles für mich. Meine Mutter denkt auch immer, sie kann mir was erzählen und ich glaubs dann. Ich widersprech nicht. Hab ich nicht nötig. Brauch ich nicht. Wenn du widersprichst, wissen die, du hast was kapiert, und das ist schlecht. Du darfst dir nichts anmerken lassen, nie. Dann denken alle, du bist okay. Die lassen dich dann in Ruhe. So geht das.«
    Er schaute mir in die Augen. »Ich kann sehen, wenn einer falsch schaut.«
    »Wie deine Mutter an dem Abend, als deine Schwester verschwunden ist«, sagte ich.
    »Genau«, sagte er sehr leise.
    Anmerkung: Der Zeuge nimmt den Turnschuh, hält ihn hoch und reicht ihn Hauptkommissar Süden über den Tisch. HK Süden steckt den Schuh in die Plastiktüte. Der Zeuge sieht mit großer Anspannung zu.
    »Du wusstest, dass deine Schwester nicht mit euerm Vater zum Schwimmen gehen wollte.«
    »Ja.«
    »Trotzdem ist sie in sein Auto gestiegen.«
    »Weil er sie gezwungen hat.«
    »Woher weißt du das?«
    »Ist doch egal jetzt.«
    »Hast du mit deiner Schwester darüber gesprochen?«
    »Spinnst du? Ich hab mit der doch nicht gesprochen! Die war doch nicht mehr da! Ich hab sie doch nicht gefunden! Ich hab alles abgesucht, ich war auf dem alten Bahngleis, überall. Dann ist es dunkel geworden. Die war doch weg! Weg war die.«
    »Was hast du gedacht, wo sie hin sein könnte?«
    »Weg, hab ich gedacht, dass sie weg ist, dass sie es satt hat, so behandelt zu werden. Dass sie abgehauen ist. Das hab ich gedacht.«
    »Nastassja ist sechs Jahre alt.«
    »Und? Glauben Sie, mit sechs ist man zu klein, um abzuhauen? Man kann immer abhauen, wenn man kapiert hat, dass man weg muss. Ist doch egal, das Alter.«
    »Dann bist du nach Hause gegangen?«
    »Ja.«
    »Und dann hat sich deine Mutter auf die Suche gemacht.«
    »Kann schon sein.«
    »Was hast du gedacht, als sie zurückgekommen ist?«
    »Dass sie Nasti gefunden und umgebracht hat.«
    Anmerkung: Der Zeuge Fabian wischt sich über die Augen. Er unterdrückt seine Traurigkeit.
    »Hast du mit ihr gesprochen?«
    »Wozu denn? Ich hab gesehen, dass sie lügt. So was seh ich, hab ich doch grade gesagt!«
    »Sie hat nichts gesagt?«
    »Sie hat die Polizei angerufen, und ihr habt nichts gemerkt.«
    »Warum hast du uns nichts gesagt?«
    »Hab keine Lust gehabt, was zu sagen. Ich hab mir gedacht, vielleicht ist sie doch nicht tot und bloß weg, weit weg, superweit weg und ewig.«
    »Wo hast du Nastassjas Schuh gefunden, Fabian?«
    Anmerkung: Der Zeuge sieht aus dem Fenster und steht dann ruckartig auf.
    »Haben Sie ein Auto?«
    »Im Dezernat, fünf Minuten von hier.«
    »Dann fahren wir jetzt hin.«
    »Wo fahren wir hin, Fabian?«
    »Irgendwohin.«
    Anmerkung: Der Zeuge steigt aus der Bank und geht ohne ein weiteres Wort zur Treppe.
    Ende der Vernehmung: elf Uhr fünfundfünfzig.
    Wir verließen die Stadt in südlicher Richtung und fuhren zum Wasserkraftwerk Höllriegelskreuth, unmittelbar am Isarkanal. Von dort nahmen wir die schmale Straße zwischen Kanal und Wald, bis wir eine Stelle erreichten, an der gefällte und zugeschnittene Baumstämme lagen. Hier stieg Fabian aus, machte ein paar Schritte und blieb dann stehen, dem Hang zugewandt.
    Freya hatte einen kleinen Recorder mitgenommen, um
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher