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Süden und das verkehrte Kind

Süden und das verkehrte Kind

Titel: Süden und das verkehrte Kind
Autoren: Friedrich Ani
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Ausfahrt stehen bleiben musste, weil Fußgänger kamen, beugte ich mich hinaus und sagte: »Gott ist die Finsternis, und die Liebe das Licht, das wir ihm geben, damit er uns sehen kann.« Eine junge Türkin mit Kopftuch lächelte und wartete, bis ich losgefahren war. Diesen Satz hatte mein Vater in dem Brief geschrieben, den er in der Küche liegen gelassen hatte, an jenem Sonntag, als ich sechzehn Jahre alt und er für immer verschwunden war.
    Lieben Sie Ihre Tochter?, wollte ich Kolb nicht fragen. Lieben Sie Ihre Frau?, wollte ich Kolb nicht fragen. Lieben Sie Ihren Sohn?, wollte ich Kolb nicht fragen.
    Gibt es jemanden, den Sie lieben?, wollte ich Kolb nicht fragen.
    Sondern Martin. Sondern Martin. Sondern Martin. Sondern Martin. Obwohl er keine Tochter hatte. Und keinen Sohn. Und keine Frau. Und niemanden sonst.
    Mit hundertneunzig Stundenkilometern jagte ich den Wagen über die Autobahn.
    Dann ließen mich die Kollegen endlich allein. Ich war geblitzt worden, und weil ich nicht stehen geblieben war, hatten sie die Verfolgung aufgenommen. Ich erzählte ihnen die Geschichte von einem Flüchtenden, den ich verfolgte, und sie hatten keine andere Wahl, als mir zu glauben. Natürlich hätte ich wegen ihnen den Mann nun verloren. Sie entschuldigten sich.
    »So was passiert«, sagte ich.
    In der »Raststätte Hofoldinger Forst« saßen an diesem Montagvormittag zwei Paare und drei Lastwagenfahrer , ab und zu beobachtete ich draußen Leute, die ihr Auto parkten und auf die Toilette gingen. Ich trank schwarzen Kaffee. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, was passiert war. Immer wieder tauchte Martins blutverschmiertes Gesicht aus dem Nebel auf, der in mir waberte, seit ich zum ersten Mal während der Vernehmung das billige Rasierwasser und den Schnaps gerochen hatte.
    Was ich in dieser Raststätte wollte, wusste ich nicht. Wieso ich aus dem Dezernat geflüchtet war, wusste ich nicht, und über die Konsequenzen machte ich mir keine Gedanken.
    Einmal ging ich hinaus auf den Parkplatz, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Die Luft war kühl und schneeig, und es hätte mir gefallen, wenn auf meinen Lidern Flocken geschmolzen wären wie Tränen eines kosmischen Schneemanns.
    »Das Rührei mit Schinken?«, fragte die Frau hinter der Theke.
    Ich sagte: »Ja.« Und ich aß das Frühstück wie jemand, der auf einer Reise und ausgehungert war und an den Rändern der Zeit entlangfuhr.
    Über eine Landstraße kehrte ich in meine Wohnung im östlichen Münchner Stadtteil Giesing zurück. In der Tür steckte ein Zettel von Sonja. Ich rief sie an, und sie kam zu mir und blieb ein paar Stunden, und am nächsten Tag, Dienstag, kam sie abends und verbrachte die Nacht mit mir.
    Ich erfuhr, dass es Volker Thon gelungen war, Kolbs Anwalt so weit zu bringen, seinen Mandanten zu beruhigen und ihn davon abzuhalten, die Presse zu informieren; schließlich gelte er nach wie vor als Tatverdächtiger, auch wenn er vorübergehend auf freiem Fuß sei. Ein Betriebsleiter, der beschuldigt werde, seine sechsjährige Tochter entführt zu haben, wäre seinen Job innerhalb eines halben Tages los, das schien sogar Torsten Kolb zu begreifen.
    »Und er hat zugegeben, seine Tochter tatsächlich an den Haaren gepackt und geschüttelt zu haben«, sagte Sonja in dem Zimmer mit den gelben Wänden, wo wir auf dem Boden saßen und ich Bier und sie Wasser trank.
    »Er wollte mit seiner Frau sprechen, aber das haben wir ihm nicht erlaubt. Zum Glück ist der Anwalt auch nicht gerade ein Fan seines Mandanten, er muss ihn vertreten, weil sie sich lange kennen, er ist ein Freund von Kolb senior.«
    Dann schwieg Sonja wieder. Zwischen uns lagen vier Meter, sie hockte an der Wand mir gegenüber. Der leere Stuhl stand vor dem Fenster. Es war weder kalt noch warm. Ich war barfuß, das weiße Leinenhemd hing mir aus der Jeans, die am Bauch spannte. Die Hände auf den Boden gestützt, sah ich zu ihr hinüber und wünschte, sie würde näher kommen. Vom Flur fiel Licht herein, sonst war es dunkel im Zimmer. Sie hatte gesagt, der Staatsanwalt räume mir bis morgen Früh Bedenkzeit ein, dann wolle er mit mir sprechen und entscheiden, was weiter zu geschehen habe. Sollte ich mich der Befragung entziehen, würde er eine Dienstaufsichtsbeschwerde einleiten und dem Innenminister vorschlagen, mich vorläufig vom Dienst zu suspendieren, möglicherweise inklusive einer Rückstufung des Gehalts. Nach Meinung des Staatsanwalts sei ich unter den gegebenen Umständen für den
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