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Süden und das verkehrte Kind

Süden und das verkehrte Kind

Titel: Süden und das verkehrte Kind
Autoren: Friedrich Ani
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unseren Gewohnheiten nachgehen.
    Auf einer Bank vor dem Klinikum lehnte sich Freya an mich.
    »Entschuldige wegen vorhin«, sagte sie. »Ich habs nicht zurückhalten können.«
    »Sei still«, sagte ich, und ich wunderte mich ein wenig über das dreiste Sonnenlicht.

14
    E r konnte nicht sprechen. Der Verband bedeckte die Hälfte seines Gesichts, und seine Schulter schmerzte bei jeder Bewegung, wie uns eine Schwester erklärt hatte.
    »Es tut mir Leid«, sagte ich.
    Ich saß auf der Bettkante, Sonja Feyerabend stand hinter mir, sie hatte die gelben Tulpen noch in der Hand, weil die Schwester erst eine Vase organisieren musste.
    »Es tut mir sehr Leid«, sagte ich.
    Er nickte vorsichtig. Als ich ihn so daliegen sah, kam er mir wie ein alter Mann vor, der endlich ausruhen durfte und nicht wusste, wozu. Seine Hand war grau und knochig, und wenn ich sie drückte, fürchtete ich, sie könne zerbrechen.
    »Ich stell die Blumen ans Fenster«, sagte die Schwester.
    »Der Vater hat zugegeben, dass Nastassja im Auto zu ihm gesagt hat, sie würde sich umbringen«, sagte ich zu Martin Heuer. »Er hat es nicht geglaubt. Natürlich nicht. Die Mutter hat die Plastiktüte in einem Küchenschrank aufbewahrt. Heute Morgen rief Dr. Ekhorn an, er hat seinen Bericht noch nicht abgeschlossen, aber er geht davon aus, dass das Mädchen sich die Tüte selbst über den Kopf gestülpt und mit zwei Gummiringen am Hals fixiert hat. Er sagte, er könne es nicht begreifen. Und doch wird es so gewesen sein. Die Beerdigung findet am Samstag statt. Der Fall ist beendet.«
    »Und der Junge sitzt die ganze Zeit in seinem Zimmer und hört Musik«, sagte Sonja. »Die Großeltern kümmern sich um ihn. Sie haben ihrer Tochter angeboten, in den Osterferien mit ihr und Fabian irgendwohin in die Sonne zu fliegen, zum Ausspannen, zum Abstandgewinnen. Sie bezahlen die Reise, wie sie extra betont haben.«
    »Darauf wird sie sich nicht einlassen«, sagte ich.
    Dann schwiegen wir lange, darin waren wir geübt. Sonja verließ als Erste das Zimmer, und ich blieb noch fünf Minuten. Martin hatte die Augen geschlossen. Er lag mit zwei weiteren Patienten, die während unseres Besuchs zum Rauchen in die Cafeteria gegangen waren, auf dem Zimmer. Noch immer hielt ich seine Hand, bis ich bemerkte, dass er eingeschlafen war. Behutsam deckte ich ihn zu und wandte mich zur Tür. Da stand mein Vater, er trug einen schwarzen Anzug, der ihm zu eng war, und streckte die Hand nach mir aus. Aber ich nahm sie nicht. Ich sah nur hin. Dann ließ er den Arm sinken und sagte: Jetzt sind wir allein. Und ich wollte sagen: Nicht wir sind allein, du bist allein, und ich bin allein, jeder für sich. Das traute ich mich nicht, ich war dreizehn und wollte in diesem Moment nicht altklug sein, nicht klüger tun vor meinem Vater. Wir standen uns gegenüber, und hinter mir lag eine Frau, die vor einer Stunde gestorben war. Mein Vater kam näher, und ich roch sein Rasierwasser. Er blieb neben mir stehen und sah zum Bett. Wir sind umsonst nach Amerika gefahren, sagte mein Vater. Ich dachte an den Schamanen, der meine Mutter hätte heilen sollen und dessen Adresse mein Vater irgendwoher hatte, ich habe nie erfahren, woher. Und ich dachte auch, dass ich jetzt nicht hierher gehörte, so wenig wie die tote Frau. Und drei Jahre später, als mein Vater an einem Sonntag plötzlich verschwand, begriff ich, wenn auch nicht sofort, dass er anderswo richtiger sein wollte als dort, wo er bisher gelebt hatte. Sein Verlangen nach der ihm angemessenen Wirklichkeit war ihm wichtiger gewesen als unser gemeinsames Durchhalten in unserer abgenutzten Wirklichkeit, und vielleicht hatte er klug gehandelt, vielleicht hatte das Weggehen ihm das Weiterleben ermöglicht, vielleicht wäre er sonst am Verkehrtsein gestorben.
    Auch Martin lebte, und ich würde zurückkommen und ihn abholen, und es gab einen Sommer, der auf uns wartete.
    »Wo warst du so lange?«, fragte Sonja auf dem Flur des Krankenhauses.
    Ich nahm ihre Hand, die warm war, und wir verließen die Klinik, und draußen schien wieder die Sonne.
    »Die Zentrale hat angerufen, der Junge ist verschwunden. Er hat einen Abschiedsbrief hinterlassen, der an dich adressiert ist.«

15
    S ehr geehrter Herr Süden ,
    ich schreibe an Sie, weil die anderen nicht lesen können.
    Ich gehe weg und werde nicht zurückkommen, ich bin zwar erst dreizehn, aber ich weiß, wo ich sein möchte und wo nicht, und dort, wo ich jetzt bin, gehöre ich nicht hin. Meine Schwester ist
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