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Süden und das verkehrte Kind

Süden und das verkehrte Kind

Titel: Süden und das verkehrte Kind
Autoren: Friedrich Ani
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fuhr ich mit einem Taxi, dessen Fahrer mir erklärte, die Abschaffung der Todesstrafe in Deutschland sei der größte Fehler in der Nachkriegsgeschichte gewesen, zur Prinz-Ludwigshöhe, vorbei an lauernden Reportern und verlassenen Vorgärten, um mich im Wald oberhalb der Knotestraße umzusehen, in einem Gebiet, das die Hundertschaft bereits durchkämmt hatte. Ich hoffte nicht, eine Spur zu finden, ich wollte nur die Gegend sehen, in der Nastassja vielleicht verschwunden war. Außer mir war niemand unterwegs. Zunächst folgte ich einer ehemaligen Eisenbahnstrecke, angefüllt mit Schottersteinen, dann wandte ich mich dem Wald zu, dessen Boden von altem Laub übersät war. Umgestürzte Stämme lagen über den Wegen, und es roch nach Erde und Tannennadeln. Nach einigen Metern stieß ich wieder auf die schienenlose Trasse, die an einem Zaun aus dicken verwitterten Brettern endete, daran hing ein rundes, verrostetes Schild mit einem roten Kreis, das eine Figur mit ausgebreiteten Armen zeigte. Es war nicht schwierig, neben dem Zaun auf die Brücke dahinter zu klettern, auf der einige Bohlen durchgebrochen und noch Reste der alten Gleise zu sehen waren. Darunter verlief die neue Bahnlinie. Die Stelle schien mir ein idealer Spielplatz für Abenteuer suchende Kinder zu sein. In der Nacht wäre es lebensgefährlich, sich hier herumzutreiben. Als ich in den Wald zurückkehrte, kamen mir zwei Männer entgegen, und ich griff in die Innentasche meiner Lederjacke.
    »Was machen Sie hier?«, fragte einer der beiden, der ungefähr so schlecht rasiert war wie ich und eine braune Wildlederjacke trug.
    Ich hielt ihm meinen blauen Dienstausweis hin.
    »Kollege Süden!«, sagte der Mann. »Jetzt erkenn ich Sie! Megele, das ist der Kollege Schell.«
    Wir schüttelten uns die Hände. Die beiden waren Mitglieder der Sonderkommission und stammten nicht aus dem Dezernat 11.
    »Hier ist alles ruhig«, sagte Megele.
    »Wer soll schon kommen, der Vater sitzt ja«, sagte Schell, der ein silbernes Kreuz als Ohrring trug.
    »Nehmen Sie ihn heute dran?«, fragte Megele.
    »Nein«, sagte ich. »Er hat noch eine zweite Nacht gut.« Manchmal brachen Tatverdächtige, die sich bei den ersten Vernehmungen renitent oder arrogant gezeigt hatten, schon nach einer Nacht in der Zelle zusammen und waren bereit auszusagen, weil sie das Eingesperrtsein in dem engen Raum nicht ertrugen.
    Bevor ich von der Ludwigshöhe nach Laim fuhr, rief ich im Dezernat an.
    »Er hat den Mund aufgemacht«, sagte Volker Thon. »Er wollte nicht zurück in die Zelle.«
    »Wo ist er jetzt?«
    »Wieder drin.«
    »Hat sich der Anwalt gemeldet?«
    »Ja«, sagte Thon. »Er kommt einen Tag früher aus seinem Urlaub zurück, er hat sich für heute Nachmittag angekündigt.«
    »Wir machen die Vernehmung morgen früh um acht« , sagte ich.
    »Einverstanden«, sagte Thon. »Ich informier Dr. Vester. Es haben sich neue Zeugen gemeldet, sie wollen das Mädchen gesehen haben, gestern Abend, die Kollegen sind alle draußen, das LKA streut die Fernschreiben über ganz Bayern. Ich bin aber nicht zuversichtlich, so ein kleines Mädchen, das läuft nicht rum…«
    »Ja«, sagte ich.
    »Was glaubst du?«
    »Ich bin so wenig zuversichtlich wie du.«
    »Hast du Ärger mit Sonja?«, fragte er.
    »Nein«, sagte ich.
    Nach dem Gespräch, das ich von einer Telefonzelle aus geführt hatte, fuhr ich mit einem Taxi, dessen Fahrer mir erklärte, in italienischen Fußballstadien gebe es mehr Nazis als in deutschen, in die Westendstraße zu der Audi-Niederlassung, in der Torsten Kolb als Betriebsleiter angestellt war. Ich wollte schauen. Das Autohaus war ein einstöckiger weißer Flachbau an der Ecke zur Ludwigshafener Straße, mit einer Außentreppe und einem Rundgang. Es lag direkt an der Hauptstraße, auf deren Mittelstreifen die Straßenbahn nach Laim fuhr. In einer Umgebung von Busgaragen, Schrebergärten, Bürokomplexen, Baumärkten und grauen Fassaden klirrten vor dem Autohaus hölderlinartig drei Fahnen im Wind. Auf den Parkplätzen standen neue und gebrauchte Fahrzeuge mit Preisschildern hinter der Windschutzscheibe. Kaum jemand ging spazieren. Wie aus dem Nichts tauchten vereinzelt Paare unterschiedlichsten Alters auf und verschwanden in einer Nebenstraße. Natürlich bestand die Möglichkeit, in einem der Schuppen oder einer Baracke auf den Hinterhöfen ein Kind zu verstecken, doch ich glaubte nicht daran.
    Ich hatte nur schauen und mir einen Eindruck von der Alltagsumgebung des Tatverdächtigen
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