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Süden und das verkehrte Kind

Süden und das verkehrte Kind

Titel: Süden und das verkehrte Kind
Autoren: Friedrich Ani
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mich wirklich, Sie persönlich kennen zu lernen, eine andere Situation wäre mir allerdings lieber, Ihnen auch, schätze ich… Sie können immer noch, jetzt sofort, wenn Sie wollen, einen Rechtsbeistand hinzuziehen. Obwohl dies ein Kontaktgespräch ist, worauf ich großen Wert lege. Möchten Sie das? Wollen Sie sich Ihre Entscheidung noch einmal überlegen? Sie erhalten jede Chance, die Ihnen zusteht, ich werde versuchen, Sie nicht anders zu behandeln als jede andere Person in Ihrer Lage.«
    Er machte eine Pause, holte Luft, sah zum Fenster, durch das nur spärlich Licht hereinfiel, runzelte die Stirn und senkte für einen Moment den Kopf.
    »Das ist das erste Mal, dass ich gegen einen Polizeibeamten ermitteln muss«, sagte Vester. »Ich geb zu, keine einfache Situation. Wie für Sie auch, schätze ich. Wir hatten die Bedenkzeit also beide nötig. Ich für mein Teil habe gestern den ganzen Tag Ihre Akten gelesen, auch nachts noch, statt Bier habe ich schwarzen Tee getrunken, vermutlich die gleiche Menge wie Sie Bier. Was mir aufgefallen ist: Sie sind ein eigenwilliger Beamter, Sie neigen dazu, auszuscheren. Würden Sie diese Einschätzung teilen?«
    »Was meinen Sie mit ›ausscheren‹?«, sagte ich.
    »Aus der Gruppe«, sagte Vester. »Sie scheren aus dem Team aus, aus dem Kollegenkreis, Ihr Kollege Thon hat mir meinen Eindruck bestätigt. Gleichwohl schätzt er Sie außerordentlich, das hat er ausdrücklich betont.«
    Er sah mich an und zupfte am Ärmel seines hellblauen, klein karierten Hemdes, dessen Manschetten aus den dunklen Sakkoärmeln hervorstanden. Ich schätzte Dr. Michael Vester auf Ende vierzig und vermutete, dass er bis vor einiger Zeit schlanker gewesen war, da er sich in Abständen an die Wangen fasste und sie drückte und sich mit schnellen unauffälligen Bewegungen über die Hüften strich. Er trug eine teure silberglänzende Armbanduhr und wenn er einen Blick darauf warf, ließ er sich Zeit.
    »Hat Torsten Kolb Anzeige erstattet?«, sagte ich.
    Er antwortete erst nach einer Weile, während er mich unvermindert anstarrte.
    »Wir sitzen hier«, sagte Vester, »weil ich darüber zu beschließen habe, ob wir ein Verfahren einleiten müssen oder nicht. Unabhängig von Herrn Kolb, der sich zu der Sache bis zur Stunde nicht geäußert hat. Es geht hier nicht um die Sache Kolb, jedenfalls nicht in erster Linie, es geht um Sie. Sie sind der Grund, warum Herr Thon keine andere Wahl hatte als mich zu informieren beziehungsweise einfach das zu tun, was er tun muss. Mich und Sie muss die Frage beschäftigen, ob Ihr Verhalten eine Dienstaufsichtsbeschwerde und möglicherweise förmliche Disziplinarmaßnahmen nach sich zieht. Im Augenblick möchte ich mir nur ein Bild von Ihnen machen, ich möchte Ihre Sicht der Vorfälle kennen lernen, und ich versichere Ihnen, was immer in Ihren Akten stehen mag, die Äußerungen mancher Kollegen, Anmerkungen über eigenmächtiges Verhalten und dergleichen, Ihre eigenen Aussagen zu bestimmten Fällen und Personen – das alles werde ich nicht dazu benutzen, ein eventuelles strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen Sie zu untermauern. Mit all dem, was ich erwähnt habe, können Sie sich nicht selbst beschuldigen, machen Sie sich darüber keine Sorgen! Ausschließlich Ihr Verhalten vom Montag zählt, Sie sind im Augenblick kein Beschuldigter, ist Ihnen das klar?«
    »Natürlich«, sagte ich.
    »Gut«, sagte Vester. »Haben Sie zum jetzigen Zeitpunkt den Wunsch, dass Ihr Vorgesetzter Thon oder Dezernatsleiter Funkel an diesem Kontaktgespräch teilnimmt?«
    »Nein«, sagte ich.
    »Ich versuche, Ihnen Möglichkeiten zu bieten, damit Sie sich wohl fühlen, damit Sie sich entspannen, damit wir vernünftig und schnell zu einer Klärung kommen. Sind Sie sicher, dass Sie dieses Gespräch weiter allein mit mir führen wollen?«
    »Ja«, sagte ich.
    »Dann weise ich Sie darauf hin, dass ich, wenn ich den Eindruck gewinnen sollte, es wäre notwendig, im Anschluss an dieses Kontaktgespräch eine informatorische Befragung durchführen werde, und zwar in Anwesenheit der Herren Thon und Funkel.« Vester faltete die Hände und holte tief Luft. »Selbstverständlich würde ich nach dieser Befragung eine Aktennotiz erstellen und meine Erkenntnisse und Schlussfolgerungen dem Tatbefundsbericht hinzufügen. Von unserem jetzigen Gespräch wird es keinerlei Vermerke geben, das hab ich Ihnen bereits erklärt. Auch wenn es Ihnen merkwürdig oder überflüssig erscheint: Ich weise Sie nochmals darauf
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