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Süden und das verkehrte Kind

Süden und das verkehrte Kind

Titel: Süden und das verkehrte Kind
Autoren: Friedrich Ani
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nichts zu bedeuten«, sagte der Kollege, dessen Name mir nicht einfiel.
    »Wir werden die Mutter und den Vater danach fragen«, sagte Thon.
    »Wie geht es der Mutter?«, fragte Weber.
    »Sie ist schwach«, sagte Thon. »Ich hab vorhin mit dem Klinikum telefoniert, sie würden uns mit ihr sprechen lassen, kurz, immerhin. Ich bin trotzdem dafür, bis morgen zu warten.«
    »Warum?«, fragte ich.
    »Holen wir den Ehemann nochmal zum Verhör?«, sagte Sonja. Ich konnte mich nicht erinnern, dass sie je das Wort Verhör benutzt hätte. Es gab Kollegen, die kein Problem damit hatten, die meisten, zu denen auch ich zählte, sprachen von Vernehmungen, weil für uns Verhöre nur im Dritten Reich stattgefunden hatten.
    »Er wird die Aussage verweigern«, sagte Thon.
    »Wir sollten ihn trotzdem holen«, sagte Sonja.
    »Einverstanden?«, fragte Thon.
    »Ja«, sagte ich. »Vorher fahre ich ins Krankenhaus zur Mutter.«
    »Nimm Sonja mit!«
    »Ich würde lieber hier bleiben und meine Berichte schreiben«, sagte sie. »Freya kann ihn begleiten.«
    Es entging Thon nicht, dass sie in der dritten Person von mir gesprochen hatte.
    »Spätestens Montag früh wissen wir, wo das Mädchen steckt, und ich wette, die Mutter oder der Vater werden uns zu ihr führen«, sagte der Kollege, dessen Name mir plötzlich einfiel: Horndasch.
    »Die Hundertschaft geht morgen die Isar ab«, sagte Thon und kratzte sich mit dem Zeigefinger am Hals. »Und das Präsidium stellt uns einen zweiten Pressesprecher zur Verfügung. Wir können uns also ganz auf unsere Arbeit konzentrieren. Bring die Mutter zum Sprechen, Tabor! Wir dürfen keine Zeit verlieren.«
    Aber wir verloren immer Zeit, bei jeder Kindsvermissung, wir hatten zu viele Wirklichkeiten zu durchdringen, zu viele Masken zu entlarven, zu viele Gesichter wieder herzustellen, die von Lügen und Lebenswunden verunstaltet waren, wir mussten die Wörter begreifen, die wir auf Hunderten von Seiten niederschrieben, als enthielten sie die Wahrheit oder eine Erkenntnis und nicht bloß, wie so oft, die Legenden selbst erschaffener Biografien. Und wenn es sich bei den Eltern eines verschwundenen Kindes um Machthaber der Liebe oder um gut geschminkte freundliche, im Alltag erprobte Verbrecher handelte, verloren wie doppelt Zeit. Besessen davon, schnellstmöglich Beweise zu beschaffen, arbeiteten wir uns von der Binnenwelt einer Familie zur Außenwelt vor und übersahen manchmal eine Geste, überhörten die Pause zwischen zwei Sätzen, richteten uns in unserer Erfahrung ein und misstrauten Impulsen, die uns zu gefühlig erschienen. Oft brachten wir auf diese Weise die Fahndung zu einem raschen Abschluss, fanden das Kind oder dessen Leichnam, überführten den Täter oder die Täterin, wandten uns einem neuen Fall zu. Und nach und nach wurden wir so zu wandelnden Archiven, Tragödien lagerten in uns, bizarre Schicksale, ungehörte Gebete, tonnenweise versteinerte Tränen. Wir machten immer weiter, wir fragten nicht lange, wir hatten keine Zeit zu verlieren.
    »Kommen Sie!«, sagte die Nachtschwester. »Ich bring Sie zu ihr. Übrigens hat sie Besuch.«
    Sie hatten das Bett auf den Flur geschoben, damit ich allein mit ihr sprechen konnte. Als die Schwester, Freya Epp und ich durch die Tür traten, die sich automatisch öffnete, fuhr Fabian von seinem Stuhl hoch, den er neben das Bett gestellt hatte. Die Schwester ging in den Aufenthaltsraum, von wo aus sie uns im Auge hatte.
    »Wie geht es Ihnen, Frau Kolb?«, fragte ich.
    Sie nickte. Ihr Gesicht sah bleich und ausgezehrt aus, und ihre sonst welligen Haare fielen ihr strähnig übers Gesicht. Sie wischte sie mit einer schwerfälligen Geste beiseite und bemühte sich, ihren Sohn anzulächeln, was ihr schlecht gelang.
    »Wir möchten gern allein mit deiner Mutter sprechen« , sagte ich zu Fabian.
    Er zuckte mit der Schulter, steckte die Hände tief in die Taschen seiner viel zu großen Jeans und ging den Flur hinunter und durch die breite Glastür, die sich vor ihm öffnete, ins Treppenhaus. Ich deutete Freya an, sie solle sich setzen. Ihren Schreibblock auf den Knien, wandte sie sich Medy Kolb zu.
    »Ihr Sohn hat gesagt, Nastassja hätte gestern Abend ihren Vater getroffen«, sagte Freya. »Wussten Sie das?«
    Zuerst reagierte sie nicht. Dann sah sie zu mir, ich stand neben dem Bett zu ihren Füßen, sie schloss die Augen.
    »Ein Zeuge hat sich gemeldet, Frau Kolb«, sagte ich. »Er hat die beiden zusammen gesehen, Nastassja und Ihren Ehemann.«
    Ich bemerkte, wie
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