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Süden und das verkehrte Kind

Süden und das verkehrte Kind

Titel: Süden und das verkehrte Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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hat, von Anfang an. Er hat uns ins Gesicht gelogen, und ich lass mir nicht von einem Alkoholiker diesen Fall kaputtmachen. Das Mädchen ist sechs Jahre alt!«
    »Ist mir egal, was du denkst«, sagte ich. »Wenn Martin sagt, die Frau ist die Hauptverdächtige, dann glaube ich ihm.«
    »Du glaubst alles, was er sagt! Ihr seid Freunde, eure Freundschaft ist was Heiliges, dafür setzt ihr euern Beruf aufs Spiel, wenns sein muss. Das sind Kinderspiele von Männern. Dieser Mann, Tabor, ist ein Wrack, er braucht Hilfe, und zwar medizinische und psychologische Hilfe. Ich kann ihm nicht helfen, und du kannst es auch nicht. Sieh das doch ein! Ich weiß, du verteidigst ihn, ich versteh das auch, du lügst Thon an, glaubst du wirklich, er nimmt dir ab, dass Martin krank ist? Er hat nur keine Zeit, sich mit dir auseinander zu setzen, und schon gar nicht mit Martin. Mach dir doch nichts vor!«
    »Hat er dir gesagt, du sollst mit mir reden?«, sagte ich. Sie stieg auf die Bremse, fuhr den Wagen an den Straßenrand, stellte den Motor ab und riss die Fahrertür auf.
    »Steig aus! Du sollst aussteigen!«
    Draußen standen wir uns gegenüber, zwischen uns das Auto.
    »Martin Heuer ist ein kaputter Mann!«, sagte sie laut und unangenehm. »Und wenn du ihn weiter in Schutz nimmst, hast du ein Problem mit mir. Ich kann nämlich so nicht arbeiten. Ich will nicht jeden Tag einem Mann begegnen, der wie ein wandelnder Leichnam durchs Dezernat torkelt, ich will…«
    »Er torkelt nicht«, sagte ich. »Er torkelt nie.«
    »Es gibt Dinge, die sind wichtiger als die Sauferei deines besten Freundes. Und ich garantiere dir, wenn dieses sechsjährige Mädchen stirbt, weil wir schlampig gearbeitet haben, weil dein bester Freund Mist gebaut hat, weil du dich mehr um ihn kümmerst als um den Fall, dann werd ich mich von dir trennen. Und ich werd mich auch wieder versetzen lassen, denn ich hab keine Lust und keine Kraft, mit zwei Kerlen wie euch zusammenzuarbeiten. Ich geh zurück zum Mord, obwohl ich das nie mehr wollte. Immer noch besser als jeden Tag diesen lebenden Toten Martin Heuer und seinen Schatten, Herrn Süden. Du bist Polizist, Tabor, du bist Fahnder, du hast an eine Kindsvermissung zu denken und an nichts anderes, und wenn du das nicht kannst, dann musst du raus aus der Soko, dann mach Urlaub, fahr mit deinem Freund auf die Kanarischen Inseln – du fliegst ja nicht, hab ich vergessen. Dann fahr nach Rügen oder nach Sylt, lüfte deinen Kopf aus, nimm deinen Freund mit, kurier ihn aus, hör ihm zu, hör dir seine Theorien über Kindsentführungen an, mach, was du willst! Aber torpedier nicht unsere Arbeit. Es tut mir Leid, dass ich dich anschreie, ich möchte dich nicht verlieren, ich will diesen Fall klären, ich will diesen Mann überführen, der seine Tochter und seine Frau misshandelt, ich will, dass wir keine Zeit verlieren!«
    Ich sah ihr blasses Gesicht und ihre Augen, über denen ein Schleier aus Erschöpfung und Müdigkeit lag, ich sah die Spitze ihrer Nase, die leicht nach oben zeigte, ihren Mund, ihre zitternden Lippen. Ich wollte etwas sagen, aber Sonja war schon eingestiegen und ließ den Motor an. Autos fuhren vorüber, und auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig stand eine alte Frau mit einem Rauhaardackel, beide reglos mir zugewandt, und bevor ich mich wieder in den Wagen setzte, winkte ich ihnen zu.
    An den Dackel musste ich denken, als ich zwanzig Minuten später am Haus von Nikolaus Kolb klingelte und das Schild am Gartenzaun sah: »Obacht, Hund hat Migräne!«

10
    I hre Erkältung wurde schlimmer. Innerhalb von einer Stunde verbrauchte sie zwei Päckchen Papiertaschentücher, trank eine Kanne Kamillentee, und wenn sie husten musste, hielt sie sich beide Hände vor den Mund. Aber jemand musste das Protokoll führen, und Erika Haberl kannte Einzelheiten und Zusammenhänge, sodass sie sofort wusste, was sie mitzuschreiben hatte oder weglassen konnte, weil es sich um eine Wiederholung bereits verakteter Aussagen handelte.
    »Hältst du seine Erklärung für glaubwürdig?«, sagte Thon, in dessen Büro die Besprechung an diesem Samstagabend stattfand. Außer ihm, Sonja, Paul Weber, Freya Epp und mir nahmen vier weitere Kollegen aus der Sonderkommission Nastassja daran teil. Auf dem Tisch standen Teller mit belegten Semmeln, zwei Kaffeekannen und etliche Wasserflaschen, doch keiner von uns hatte Hunger, nicht einmal Durst. Vorübergehend wich sogar die Erschöpfung aus den Gesichtern, und jeder am Tisch vermittelte den

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