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Herr der zwei Welten

Herr der zwei Welten

Titel: Herr der zwei Welten
Autoren: Sibylle Meyer
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D ie Nacht war lau und nur ein leiser Wind begleitete das Klacken ihrer Absätze auf der Betondecke der Straße. Julie Neumann war wütend. Sie hatte ausgerechnet heute Abend ihren Freund, nein, Exfreund, berichtigte sie sich selber in Gedanken, überraschen wollen. Seit sie mit Mark zusammen war, war es erst das zweite Mal, dass sie den Schlüssel zu seiner Wohnung benutzte. Aber anstatt eines gemütlichen Abends zu zweit , hatte sie etwas ganz anderes vorgefunden. Als Julie die Wohnungstür aufgeschlossen hatte, hatte sie schon Geräusche gehört, die darauf schließen ließen, dass Mark nicht allein war. Im Wohnzimmer überraschte sie ihn und seine Errungenschaft in eindeutiger Pose. Beide waren nackt und Mark starrte ihr plötzlich überrascht ins Gesicht. Vermutlich hätte er auch diesmal eine Erklärung parat gehabt, aber Julie hatte ihm nicht die Zeit dazu gelassen. Sie war auf dem Absatz umgekehrt und hatte die Wohnung beinahe fluchtartig verlassen. Jetzt könnte sie sich dafür ohrfeigen! Warum nur hatte sie ihm nicht gesagt, was in diesem Moment in ihr vorgegangen war? Aber was war eigentlich in ihr vorgegangen? Sie war wütend gewesen und das war sie immer noch. Aber auf wen eigentlich? Auf Mark, der sich offensichtlich sexuell mit einer Anderen vergnügte, oder auf sich selbst, weil sie sich überhaupt auf ihn eingelassen hatte? Wenn sie es genau nahm, kam für ihre Wut auch noch eine andere Person in Betracht: ihre Schwester Tina. Tina war es gewesen, die sie und Mark zusammengebracht hatte. Zusammengebracht? Lächerlich! Julie schnaubte beinahe vor Wut, während ihre Absätze noch immer ein wildes Stakkato schlugen. Tina hatte sie verkuppelt. Jawohl, verkuppelt! Sie, und wie es jetzt aussah, nicht einmal Mark wollten wirklich etwas voneinander. Die Einzige, die der Meinung war, dass sie ein tolles Paar abgeben würden, war Tina gewesen. Julie blieb kurz stehen und zog die, für diese Jahreszeit, es war Ende März, schon beachtlich laue Nachtluft tief ein. Ihre Wut legte sich, zumindest die auf Mark. Eigentlich musste sie sich nun eingestehen, dass er ihr einen Gefallen erwiesen hatte. Schon länger, eigentlich schon seit dem Tag, als sie ihn zu ihrem Freund genommen hatte, hatte sie versucht, diese Beziehung wieder zu beenden. Jetzt endlich hatte sie einen Grund dafür. Sie liebte Mark nicht, hatte es nie getan. Sie war diese Beziehung nur eingegangen, um ihrer Schwester einen Gefallen zu tun. Wenn sie das jemandem erzählen würde, sagte sie sich, würde man sie wohl für verrückt erklären. Oder ihr gar nicht glauben! Was in etwas auf dasselbe hinauslaufen würde. Julie seufzte. Es stimmte schon, dass ihr niemand glauben würde, jedenfalls keiner, der ihre Verhältnisse nicht kannte. Julie war Waise geworden, als sie gerade 10 Jahre alt war. Ihre Schwester, die neun Jahre älter war, hatte die Pflegschaft übernommen. Es war eine schwere Zeit gewesen, vor allem für Tina. Sie war damals gerade mal zwei Jahre jünger gewesen als Julie heute. Nicht auszudenken, wenn Julie jetzt schon die Verantwortung für ein Kind übernehmen musste. Aber irgendwie hatte Tina es tatsächlich geschafft. Sie liebte Julie wie eine Mutter ihr eigenes Kind, nicht wie eine Schwester. Aber das alles hatte Tina zu dem Menschen werden lassen, der sie heute war. Eine Glucke! Julie bereute ihre Gedanken fast augenblicklich, so etwas durfte sie nicht denken. Tina tat alles, um Julie glücklich zu machen. Aber das genau war ja das Problem! Tina hatte vor drei Jahren geheiratet und sie hatten eine Tochter bekommen; Nancy. Das war Tinas Welt, ihr Glück! Deshalb versuchte sie krampfhaft auch Julie zu ihrem Glück zu verhelfen. Sie meinte es gut, Julie wusste das, aber was für Tina Glück bedeutete, bedeutete es nicht zwangsläufig auch für Julie. Nur dies Tina klarmachen, das war das größte Problem. Immer wieder hatte Tina versucht ihr einen Mann, von dem sie überzeugt war, dass er Julie glücklich machen würde, anzudrehen. Irgendwann, vor einigen Monaten hatte Julie nachgegeben und war mit Mark zusammengegangen. Nur glücklich war sie nicht geworden, obwohl sie das Tina niemals gesagt hatte. Vielleicht war das ihr Fehler gewesen. Na ja, jetzt war sie wieder frei. Julie tat noch einen tiefen Seufzer und setzte ihren Weg, diesmal viel langsamer, fort.
    Sie hatte ihr Auto zwei Querstraßen von hier geparkt, weil in der Straße in der Mark wohnte, fast nie ein Parkplatz frei war. Sie kannte den Weg und beschloss nun die letzten
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