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Streng vertraulich

Streng vertraulich

Titel: Streng vertraulich
Autoren: Dennis Lehane
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verkörpert, verfrühstückt Richie ihn ein- oder zweimal pro Woche.
    Alle liebten Richie Colgan, bis neben seinem Verfassernamen ein Foto von ihm gedruckt wurde. Ein guter irischer Name. Ein guter irischer Junge. Verfolgt die korrupten, fetten Parteifunktionäre im Rathaus und Parlament. Dann wurde das Bild veröffentlicht, und alle konnten sehen, daß seine Haut schwärzer war als das Herz von Kurz in Apocalypse Now, und plötzlich war er ein Unruhestifter. Aber er sorgt für hohe Verkaufszahlen, und sein Lieblingsziel ist und bleibt Sterling Mulkern. Zu den Beinamen, die er dem Senator gegeben hat, gehören »Der böse Bruder vom Weihnachtsmann«, »Diktator Sterling«, »Vielfraß Mulkern« und »Das scheinheilige Nilpferd«. Boston ist nicht gerade eine Stadt für sensible Politiker.
    Und jetzt wollte Mulkern, daß ich »mal mit ihm rede«. Wer A sagt, muß auch B sagen. Ich beschloß, Mulkern beim nächsten Mal einen kleinen Vortrag zu halten: »Ich arbeite für Sie, aber ich bin nicht Ihr Leibeigener.« Und dann würde ich ihm auch gleich sagen, daß er meinen heldenhaften Vater aus dem Spiel lassen soll.
    Mein Vater, Edgar Kenzie, war vor fast zwanzig Jahren eine Viertelstunde lang der Held der Stadt. Sein Bild war auf den Titelseiten beider Tageszeitungen, das Foto ging sogar über die Ticker und landete auf den letzten Seiten der New York Times und der Washington Post. Der Fotograf bekam dafür beinahe den Pulitzerpreis.
    Es war ein Wahnsinnsfoto. Mein Vater kletterte mit einer Sauerstoffflasche auf dem Rücken, im schwarz-gelben Anzug der Bostoner Feuerwehr, an einem Seil aus Bettlaken ein zehnstöckiges Gebäude hinauf. Wenige Minuten zuvor war eine Frau an diesen Laken nach unten gelangt. Nur hatte sie es nicht ganz geschafft. Auf halber Höhe hatte sie losgelassen und war beim Aufprall gestorben. Das Haus war eine alte Fabrik aus dem neunzehnten Jahrhundert, die mit rotem Backstein und billigem Holz in Mietwohnungen aufgeteilt worden war. Angesichts des Feuers schien es, als sei es aus Papier und Benzin gebaut worden.
    Die Frau hatte ihre Kinder in der Wohnung zurückgelassen und ihnen in einem Anfall von Panik befohlen, ihr nach unten zu folgen, statt die Kinder zuerst gehen zu lassen. Die Kinder sahen, was ihr zustieß, und wollten sich nicht mehr bewegen, standen einfach nur im schwarzen Fenster und blickten auf ihre zerbrochene Spielzeugmutter hinunter, während aus dem Zimmer hinter ihnen der Rauch hervorquoll. Das Fenster ging auf einen Parkplatz hinaus, und die Feuerwehrleute warteten auf einen Abschleppwagen für die parkenden Autos, damit sie eine Leiter vorfahren konnten. Mein Vater griff ohne ein Wort nach der Sauerstoffflasche, ging auf die Laken zu und kletterte hoch. Ein Fenster im vierten Stock explodierte vor ihm, und auf einem anderen, etwas unscharfen Foto ist er zu sehen, wie er in der Luft baumelt, während Glassplitter von seinem schweren schwarzen Mantel abprallen. Schließlich erreichte er den neunten Stock, griff sich die Kinder, einen vierjährigen Jungen und ein sechsjähriges Mädchen, und kletterte wieder nach unten. Nichts Besonderes, sagte er hinterher achselzuckend.
    Als er fünf Jahre später in Rente ging, erinnerten sich die Leute noch immer an ihn, ich glaube, er hat nie wieder für ein Bier zahlen müssen. Auf Sterling Mulkerns Vorschlag hin kandidierte er für den Stadtrat und verbrachte ein erfülltes Leben voller Arbeit in geräumigen Häusern, bis der Krebs seine Lungen erfaßte wie Rauch einen Wandschrank und ihn und das Geld auffraß.
    Zu Hause war der Held ganz anders. Mit einem Schlag sorgte er dafür, daß das Essen fertig war. Mit einem Schlag sorgte er dafür, daß die Hausaufgaben gemacht wurden. Mit einem Schlag sorgte er dafür, daß alles wie ein Uhrwerk funktionierte. Und wenn es nicht funktionierte, dann setzte es ein, zwei Faustschläge, nahm er den Gürtel oder einmal sogar ein altes Waschbrett. Womit auch immer Edgar Kenzies Welt in Ordnung gehalten werden konnte.
    Ich wußte nie und werde auch wohl nie erfahren, ob er durch die Arbeit so geworden war - ob es für ihn die einzige Möglichkeit war, wie er auf die ganzen verkohlten Leichen reagieren konnte, die er in heißen Kleiderschränken oder unter rauchenden Betten gefunden hatte, von der Hitze in Embryonallage gezwängt - oder ob er schlicht und einfach böse war. Meine Schwester behauptet, sie wüßte nicht mehr, wie er war, bevor ich auf die Welt kam; aber sie hat auch behauptet, er hätte
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