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Stigma

Stigma

Titel: Stigma
Autoren: Michael Hübner
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umliegenden Umgebung, weil er seit seiner frühsten Kindheit oft dort gewesen ist. Trotzdem hat er einiges daran verändert, hat dem Ganzen gewissermaßen einen neuen Anstrich verpasst, um es seinen Bedürfnissen anzupassen. Der Ausbau des Kellers, zum Beispiel, hat ihm die Angst vor diesem Raum genommen, sie gleichsam von dort vertrieben. Eine Art mentaler Exorzismus, wenn Sie so wollen. Die Erinnerung an seine alte Heimat dagegen war völlig lebensecht. Er hat sie quasi von Neuem durchlebt. Deswegen hatte sich bei seiner angeblichen Rückkehr dorthin auch nichts verändert. Er hat seine Fantasie sozusagen aus dem Archiv seiner Erfahrungen und Erlebnisse gespeist. Viele Autoren entwickeln ihre Geschichten auf diese Weise. Sogar ein paar von seinen Figuren beruhen auf realen Vorbildern. So hat seine angebliche Therapeutin Ihnen nicht nur optisch entsprochen, Frau Kessler, sie war zugleich auch eine Art Mutterersatz für ihn. Eine helfende Hand, die immer für ihn da war.«
    Miriam Kessler lächelte bei dem Gedanken, dass sie ihrem Sohn in den letzten vier Jahren nicht nur unbemerkt beigestanden hatte.
    »Mich hat Tom offenbar auch unbewusst in diese Szenerie eingebaut«, fuhr Dr. Clausen fort. »Aber wenn ich ihm glauben darf, bin ich dabei nicht ganz so gut weggekommen wie Sie.«
    Die Falten, die sich in den letzten Jahren in Miriam Kesslers Stirn gegraben hatten, wurden noch tiefer. »Aber er kannte Sie doch gar nicht.«
    »Nein, das nicht«, sagte Dr. Clausen und lächelte. »Aber ich habe Tom in der ganzen Zeit immer wieder untersucht und beobachtet. Oft habe ich in seinem Zimmer gestanden, ihn einfach nur angesehen und mich gefragt, was wohl in ihm vorgeht. Anscheinend hat ihm das Angst gemacht. Hätte ich gewusst, dass er mich deswegen zum Bösewicht seiner Geschichte degradiert, hätte ich ihn am Monitor beobachtet.«
    Miriam Kessler sah ihn überrascht an. »Sie … Sie meinen, er hat Sie gesehen? Aber wie ist das möglich?«
    Dr. Clausen stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch und legte die Fingerspitzen aneinander. »Wissen Sie, ich war immer ein Befürworter der These, dass sich das Bewusstsein von Wachkomapatienten nicht vollständig ausschaltet. Vereinfacht betrachtet ist dieser Zustand durchaus mit einer tiefen Hypnose zu vergleichen. Äußere Einflüsse werden zwar weitestgehend ausgeblendet, trotzdem ist man durchaus in der Lage, Stimmen und Geräusche wahrzunehmen. Und natürlich Erinnerungen. Diesen Umstand hat sich auch Toms Fantasie zunutze gemacht, als sie ihn angeblich in einen Zustand versetzt hat, in dem er sich eigentlich schon längst befand, nämlich in den des Unterbewussten. Eine äußerst intelligente Finte, möchte ich behaupten. Nur dass die vorgetäuschte Hypnose zuerst zum Scheitern verurteilt war, denn man kann sich auch in diesem Zustand nicht an Dinge erinnern, die nie stattgefunden haben.«
    »Sie wollen damit also sagen, dass Tom manche Dinge wahrnehmen konnte?«
    »Ja, wie vermutlich die meisten Komapatienten. Daher bestärke ich Schwestern, Pfleger und auch Angehörige darin, mit den Betroffenen zu reden, sie anzusprechen und so normal wie möglich zu behandeln. Wir spielen den Patienten auch Musik vor oder lassen gelegentlich ein paar Stunden den Fernseher laufen, damit sie sich nicht isoliert fühlen. In regelmäßigen Abständen lassen wir auch jemanden kommen, der ihnen die Haare schneidet.« Ein Anflug von Heiterkeit machte sich auf seinem jugendlichen Gesicht breit. »Der Friseur behauptet immer, das wären ihm die liebsten Kunden, weil sich hinterher nie jemand beklagt, wenn er ihm das Ergebnis im Spiegel zeigt.«
    »Ja, ich verstehe«, sagte Miriam Kessler. »Deshalb habe ich Tom immer etwas vorgelesen, wenn ich ihn besucht habe.«
    »Und wie sich herausgestellt hat, trifft die Vermutung zu, dass eine vertraute Stimme am ehesten ins Unterbewusstsein vordringt, weil sie dort bereits gespeichert ist.« Wieder griff er nach seinem Ordner. Diesmal nahm er ein loses Blatt Papier ganz oben heraus und reichte es Toms Mutter. »Das hier ist eine Liste der Bücher, die Tom in dieser Zeit geschrieben haben will.«
    Miriam Kessler starrte auf das Papier, das plötzlich in ihren Händen zu zittern begann. »Mein Gott«, schluchzte sie und schlug eine Hand vor den Mund. »Das sind seine Lieblingsbücher, die ich ihm in all den Jahren immer wieder vorgelesen habe.«
    Dr. Clausen nickte. »Und es sind alles ausgeklügelte psychologische Thriller. Daher hatte er seine
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