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Reifezeit

Reifezeit

Titel: Reifezeit
Autoren: Sophie Fontanel
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W enn ich in letzter Zeit an das denke, was ich zu retten versuche, verspüre ich ein so starkes Bedürfnis zu helfen, dass ich erbebe. Jemandem zu helfen, das weiß ich nun, bedeutet automatisch, selbst Hilfe zu brauchen. Und in diesen Tagen sauge ich jedes bisschen Zuneigung auf wie ein Stück Löschpapier die Tinte, und die kleinste gütige Geste wirkt auf mich so wohltuend wie Liebe. Nie zuvor habe ich andere Menschen so bewusst wahrgenommen, ich, die ich mein ganzes Leben auf die Freiheit gegründet habe. Mir geistern neuerdings ungeahnte Ideen im Kopf herum, beispielsweise zu der Frage, was eigentlich »da sein« bedeutet. Unaufhörlich muss ich daran denken, dass auch ich eines ­Tages alt sein werde, dass auch ich eine gewisse Schallgrenze überschreiten und auf das Wohlwollen eines anderen angewiesen sein werde. Wenn es irgendwann so weit ist, wer auf der Welt wird das für mich leisten können, was ich für meine Mutter leiste? Wer wird da sein? Wer wird mir zur Seite stehen, wenn ich meinerseits alt und gebrechlich bin? Werde ich mir eines Tages das Leben nehmen aus jenem ganz speziellen Liebesmangel heraus, nämlich dem Mangel an Unterstützung?
    Ich betrachte sie, diese zu Tode erschöpfte Mutter mit ­ihren sechsundachtzig Jahren, nachdem ich sie mit Liebesbezeugungen überhäuft habe: mit Osterglocken für ihre Wohnung, mit der Fürsorge, die ich ihr angedeihen ließ, mit aufmunternden Worten, einem neuen Kleid, einer Galette des Rois – dem klassischen Dreikönigskuchen aus Blätterteig –, mit kandiertem Ingwer, scherzhaften Bemerkungen über den Lauf der Dinge, mit durch beschönigende Details ausgeschmückten Berichten über meinen Alltag, mit dem im Brustton der Überzeugung vorgebrachten Hinweis, dass heutzutage die Menschen unvorstellbar lange leben und dass es letztendlich keinerlei allgemeingültige Regeln mehr gibt. Ich versichere ihr, dass sie phantastisch aussieht, ich sehe sie an, ja, und angesichts ihrer wiedergewonnenen Unbekümmertheit, angesichts des übermütigen Schalks, mit dem sie gerade schon wieder den nächsten Witz reißt, sage ich mir: »Noch ein bisschen mehr Einsatz, und sie wird nicht sterben.«

W as ist das, Unsterblichkeit? Unsterblichkeit, so erklärt sie mir, das ist, wenn du einen Film ansiehst, prall gefüllt mit Leben, mit einem Happy End, in wunderschönen, ­ultramodernen CinemaScope-Farben, leuchtenden Safran-, Zinnoberrot- und Türkistönen, und dir dann auf einmal ­bewusst wird, dass die Schauspieler bereits tot sind. Das ist ­etwas, was ihr klar ist und mir nicht. Da sitzt sie und sieht mich erwartungsvoll an in ihrer neu gewonnenen Kompetenz, wie ein gnädig gestimmter Schachspieler, der bedauert, dass er sich seines nächsten Zuges schon sicher ist. »Das ist die Realität«, so scheint sie mir zu sagen. Doch ich wehre mich dagegen, versuche, sie davon zu überzeugen, dass die Unsterblichkeit besser ist, als sie glaubt, dass sie in der Liebe besteht, die zurückbleibt, wenn ein Mensch erst einmal weit fort ist. Und ich füge hinzu: »Na, was sagst du zu meiner Theorie?« Ich provoziere sie mit meiner grenzenlosen Zärtlichkeit. Sie muss sich konzentrieren. Mein Satz muss erst einmal in ihrem Hirn ankommen, das in dem Moment einem Landstrich gleicht, in dem die Entfernungen von einem Punkt zum nächsten beträchtlich sind. Es dauert ein, zwei Sekunden, dann hellt sich ihre Miene auf. Sie nickt zum Zeichen ihres Einverständnisses. Sie signalisiert so klar und deutlich ihre Zustimmung, meine Mutter, dass sie beim ­Nicken ihren Kopf zur Seite neigt, so wie sie es früher tat, um ein vollendetes Werk zu begutachten; einen geschmückten Tannenbaum, eine mit Heftstich markierte Naht an ­einem Rock, all diese Leistungen, auf die man stolz sein kann. »Was du da sagst, ist nicht falsch«, bemerkt sie gedankenverloren. In dem Moment erfüllt mich ­unbändiger Stolz, und ich fühle mich unheimlich kompetent.
    Andere Male irre ich mich und tappe daneben, auf ebenso unselige Weise, wie sie zuweilen ihr Ziel verfehlt und fällt, nicht weit von ihrem Sessel, aber eben leider nicht in ihn ­hinein. Meine Mutter lässt sich kein X mehr für ein U vormachen. Das ist der letzte Punkt, in dem sie, eine Frau, ­deren Autorität einst ungeheuerlich war, noch die Oberhand hat: dass sie uns von nun an prüfende Fragen zum Thema Leben und Tod stellt, um eine Einschätzung davon zu gewinnen, ob sie mit uns auf Augenhöhe über die tieferen Einsichten sprechen kann, die ihr
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