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Stigma

Stigma

Titel: Stigma
Autoren: Michael Hübner
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keine gute Idee.«
    »Sie sollten Ihren Sohn jetzt nicht in Watte packen«, widersprach Dr. Clausen streng. »Unterschätzen Sie ihn nicht. Er ist eine Kämpfernatur, damals in dem Keller genauso wie in der Zeit seines Komas. Ich bin sicher, dass Tom jetzt die Kraft hat, mit der Wahrheit umzugehen. Er hat sehr hart dafür gekämpft, und ich denke, er hat ein Recht darauf. Oder wollen Sie ernsthaft, dass er seinen Vater weiter hasst, weil er denkt, er habe Sie verlassen?«
    »Nun, in gewisser Weise hat er das ja auch getan«, erwiderte Toms Mutter resigniert.
    Der Arzt seufzte abermals. Er beugte sich vor und nahm Miriam Kesslers Hand. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, sagte er versöhnlich. »Fahren Sie nachhause, und schlafen Sie sich mal wieder richtig aus. Danach sieht man meistens einiges klarer. Sie können hier ohnehin nichts mehr tun. In ein paar Tagen kommt Ihr Sohn nachhause. Bereiten Sie sich bis dahin einfach auf die Aufgabe vor, ihm wieder eine Mutter zu sein. Aber übertreiben Sie es nicht gleich«, mahnte er. »Lassen Sie ihm Luft zum Atmen, und trauen Sie ihm ruhig etwas zu. Er ist stärker, als Sie denken. Zeigen Sie ihm einfach, dass sein Kampf nicht umsonst gewesen ist und dass diese Welt und die Menschen darin auch ihre guten Seiten haben.«
    »Meinen Sie wirklich, er kann das nach alldem noch annehmen?« Ihre Worte klangen gequält.
    Dr. Clausen reichte ihr ein neues Papiertaschentuch. »Haben Sie einfach Vertrauen in ihn.« Er lächelte zuversichtlich. »Dann ergibt sich der Rest von ganz allein.«
    Dann schloss er die Akte auf seinem Schreibtisch.

Epilog
    T om Kessler hat nie ein Buch geschrieben.
    Seine Mutter zog mit ihm und seiner Schwester ins Haus ihrer Eltern, das genügend Platz für alle bot. Da es für Tom eine Zuflucht gewesen war, empfand sie diesen Schritt für seine weitere emotionale Entwicklung als die beste Alternative gegenüber der Großstadt.
    Die Erinnerungen an die Vorfälle im Keller des Wächters beschäftigten Tom noch lange. Immer wieder sah er die Augen seines Peinigers vor sich, seinen letzten Blick, bevor der Wahnsinn darin für immer erlosch. Und er glaubte, eine Botschaft darin zu erkennen, einen Hinweis in einem kurzen klaren Moment dieses verwirrten, sterbenden Verstandes. Erst als er schließlich den Mut aufbrachte, den Polizeibeamten anzurufen, der die Ermittlungen in diesem Fall geleitet hatte, und dieser ihm sagte, dass die Leiche der Frau des Wächters noch immer nicht gefunden worden war, wusste Tom, was der Mann ihm mit diesem Blick hatte mitteilen wollen. Es war weniger eine Ahnung als eine Gewissheit.
    Daraufhin fuhren die Beamten noch einmal zu dem Haus, das wegen eines Erbschaftsstreits noch immer leer stand, und untersuchten ein weiteres Mal den Keller. Der Leichenhund schlug fast augenblicklich an, und Klara Hombergs sterbliche Überreste wurden in dem künstlichen Wandvorsprung neben der Werkbank gefunden, in den sie eingemauert worden waren.
    Danach blühte Tom auf. Nachdem er seinen Schulabschluss nachgeholt hatte, machte er den Führerschein und erwies sich als guter Autofahrer. Trotzdem mied er anfangs Straßen, die an steileren Abhängen entlangführten. Während seines Studiums besuchte er seine Familie, sooft er konnte. Trotzdem fand seine Mutter, er käme nicht oft genug. Wann immer sie ihn aus ihren fürsorglichen Fängen entließ, verbrachte er Zeit mit seinem Großvater. Zum einen, weil er das Bedürfnis verspürte, die verlorenen Jahre mit ihm nachzuholen, zum anderen, weil er ein schlechtes Gewissen hatte, dass er ihn einfach hatte sterben lassen, um an sein Haus zu kommen.
    Einmal im Monat besuchte Tom seine alte Heimat. Allerdings nicht nur in seinen Erinnerungen oder aus sentimentalen Gründen. Das Grab seines Vaters lag dicht am Rande des Friedhofs auf einem kleinen Wiesenstück. Es war ein einfaches Urnengrab, nur durch eine kleine Steinplatte mit den Lebensdaten gekennzeichnet. Unauffällig, aber stolz, genau wie sein Vater es gewesen war. Jedes Mal verbrachte Tom dort gut eine halbe Stunde und versuchte, die Gründe zu hinterfragen, die seinen Vater dazu getrieben hatten, sich das Leben zu nehmen. Es endete immer in Tränen. Tom hasste ihn nicht dafür, er versuchte nur, es zu begreifen. Er hatte zwar Verständnis für die Motive seines Vaters – immerhin war er in seiner Vorstellung selbst Vater gewesen und angesichts des möglichen Verlusts seines Sohnes fast verzweifelt –, trotzdem konnte er sie nicht nachvollziehen.
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