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Die Cassini-Division

Die Cassini-Division

Titel: Die Cassini-Division
Autoren: Ken MacLeod
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Rückblick
     
     
    ES GIBT NOCH FOTOS VON DER FRAU, die eines Abends gegen
Sommeranfang des Jahres 2303 in die Party auf der Aussichtsetage
der Casa Azores platzte. Darauf wirkt sie unglaublich jung
– wie zwanzig, obwohl sie in Wirklichkeit zehnmal so alt
ist – und groß; die Muskeln sind von
Induktions-Isotonika aufgebaut, anstatt von der Schwerkraft
erschlafft; ihr Haar ist ein schwarzer Nebel; dunkle Haut,
asiatisch geschnittene Augen, eine flache Nase und schmale
Lippen, die beim Lächeln breite weiße Zähne
entblößen. In der rechten Hand hält sie eine
Ein-Liter-Flasche kopierten Lagrange Jahrgang 2046. Die Linke hat
sie an die Schulter gelegt, und an ihrem gekrümmten
Zeigefinger baumelt ein alt-goldfarbenes Bolerojäckchen, das
gut zu dem nahezu kreisförmigen Rock passt, der bei ihrem
Eintreten um ihre Knöchel schwingt. Auf ihrer rechten,
nackten Schulter hockt etwas, das wie ein kleiner Affe
aussieht.
     
    Etwas blitzte. Ich blinzelte die ringförmigen Nachbilder
weg und starrte einen jungen Mann in kobaltblauem Pyjama an, der
mit einem entschuldigenden Lächeln einen kastenförmigen
Apparat mit zahlreichen Linsen und Reflektoren absenkte und dann
im Gewühl verschwand. Er war der Einzige, der meine Ankunft
bemerkt hatte. Obwohl der Raum gut hundert Meter lang und breit
war, bot er dennoch kaum genug Platz für die geladenen
Gäste, von denen, die unaufgefordert vorbeischauten, ganz zu
schweigen. Im Laufe des Abends, wenn die ersten Paare sich
absetzten, würde der Druck nachlassen, doch so weit war es
noch nicht.
    Allerdings war Platz genug für verschiedene
Aktivitäten: für eng umschlungenes Tanzen, für
dicht’ gedrängtes Essen, für ausgiebiges Trinken
und intensive Unterhaltungen; und für erstaunlich viele
Kinder, die überall umhertollten. Raffiniert fokussierte
Beschallungsanlagen versorgten die verschiedenen Gruppen mit der
jeweils passenden Musik und grenzten sie voneinander ab. Die
hiesige Mode, locker und fließend, jedoch körpernah,
schien bestens geeignet für die Party: die Frauen trugen
Saris oder Hemden, die Männer Pyjamaanzüge oder
feierlich wirkende Togas und Heroldsröcke. Blau, Grün,
Rot und Weiß, die Grundfarben der Meeresseide, waren die
vorherrschenden Farbtöne. Mein eigenes Outfit stach zwar
hervor, wirkte aber nicht fehl am Platz.
    Die Mitte des Raums nahm die zehn Meter durchmessende
Belüftungssäule ein. Irgendwo bei den Grüppchen,
die das leise Rauschen der in die Tiefe fallenden Luft
übertönten, war wohl auch das Paar zu finden, das der
eigentliche Anlass der Party war – die beiden Menschen, die
ich sprechen wollte, und sei es nur kurz. Es hätte keinen
Sinn gehabt, mich durchs Gewühl zu drängen – wie
alle anderen, die es auf sie abgesehen hatten, würde ich
mich langsam in ihre Richtung treiben lassen.
    Ich näherte mich dem Getränketisch, stellte meine
Flasche ab und wählte ein Glas weißen Mare Imbrium. Er
schmeckte sehr trocken, was nicht verwunderte. Ich verzog
unwillkürlich das Gesicht, was mir ein
verständnisvolles Lächeln einbrachte. Der Mann in Blau
hatte es irgendwie geschafft, vor mir aufzutauchen.
    »Sie sind wohl nicht daran gewöhnt?«
    Dann wusste oder ahnte er also, woher ich kam. Ich musterte
ihn übertrieben aufmerksam und nahm einen zweiten Schluck.
Im Unterschied zu mir war er wirklich jung. Auf seine
angloslawische Art sah er mit seinem schmutzigblonden Haar und
dem rosigen, frisch rasierten Gesicht nicht schlecht aus; breite
Wangenknochen, blaue Augen. Fast so groß wie ich –
ohne Schuhe wäre er größer gewesen. Der seltsame
Apparat war an einem Halsriemen befestigt.
    »Komet-Wodka ist eher nach meinem Geschmack«,
sagte ich. Ich drückte das Glas dem Affending in die
schwarzen Pfoten und reichte dem Mann die Hand. »Ellen May
Ngwethu. Erfreut, Sie kennen zu lernen, Nachbar.«
    »Stephan Vrij«, sagte er und schüttelte mir
die Hand. »Die Freude ist ganz meinerseits.«
    Er beobachtete, wie mir der Drink zurückgereicht
wurde.
    »Kluger Affe«, bemerkte er.
    »Das stimmt«, erwiderte ich kurz angebunden. In
Wirklichkeit handelte es sich um einen smarten Raumanzug, doch
davon hielten die Leute hier nur wenig.
    »Also«, fuhr er fort, »ich gehöre dem
Wohnkomitee an und soll die uneingeladenen und unerwarteten
Gäste willkommen heißen.«
    »Oh, danke. Und außerdem sollen Sie sie
blenden?«
    »Das ist eine Kamera«, sagte er und hielt sie
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