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Stigma

Stigma

Titel: Stigma
Autoren: Michael Hübner
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er sich und lehnte sich wieder zurück. »Am Anfang haben wir seinen Zusammenbruch den schweren Misshandlungen und den Verletzungen zugeschrieben. Aber jetzt gehen wir davon aus, dass es eine Art massive Depression war, die ihn in diesen katatonischen Zustand versetzt hat und ihn schließlich ins Koma hat fallen lassen. Sein Bewusstsein war nicht geschädigt, es war lediglich ausgeschaltet. Seine Angst und sein Hass hatten es lahmgelegt, damit es ihn nicht an den Rand des Wahnsinns treiben konnte. Also musste er diese Angst erst besiegen und die Blockade durchbrechen, um wieder aufzuwachen.«
    »Und wie hat er das gemacht, wenn er nicht bei Bewusstsein war?«
    »Nun, wir sind durchaus in der Lage, auch unterbewusst zu handeln, in einem Traum zum Beispiel. Das Gehirn verarbeitet auf diese Weise Eindrücke und Emotionen quasi im Schlaf. Und mithilfe von Visualisierung.« Er legte den Ordner beiseite und griff nach einer wesentlich schmaleren Mappe. »Wie ich dem Gesprächsprotokoll von damals entnehmen kann, bescheinigen Sie Ihrem Sohn eine lebhafte Fantasie.«
    Miriam Kessler nickte zustimmend. »Ja, er liebt Bücher und hat sich schon als Kind gerne Geschichten ausgedacht. Sogar seine Lehrer waren beeindruckt.«
    »Das kann ich sehr gut nachvollziehen«, meinte Dr. Clausen und blickte anerkennend über den Rand seiner Brille hinweg. »Wie es scheint, war es nämlich genau diese Begabung, die Ihren Sohn ins Leben zurückgeholt hat.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Nachdem sich Tom der Realität bewusst entzogen hatte, um sich zu schützen, hat er sich mithilfe seiner Fantasie seine eigene erschaffen.«
    »Sie meinen …?«
    »Ja, er hat fast vier Jahre lang in einer seiner Geschichten gelebt. Und darin war er sechsundzwanzig, verheiratet und Vater eines Sohnes. Und nebenbei ein ziemlich erfolgreicher Schriftsteller. Wie ich hier sehe, war das sein Berufswunsch, nicht wahr?«
    Miriam Kessler nickte stumm.
    »Nun, das ist durchaus logisch. Er hat quasi seinen Traum gelebt, hatte, wenn Sie so wollen, ein vollkommen neues Leben angefangen. Und das weitab von Gewalt und Verbrechen, dort, wo er sich vor alldem sicher gefühlt hat.«
    »Im Haus meiner Eltern.«
    »Richtig. Das war ein Ort, der ihm vertraut war, den er gernhatte und den er mit Liebe und Geborgenheit in Verbindung gebracht hat. Das ideale Versteck für ihn.«
    »Wenn ich das richtig verstehe, hat er also meine Eltern sterben lassen, um sich ihr Haus unter den Nagel zu reißen.«
    »Na ja, ganz so radikal würde ich das nicht sehen«, wehrte Dr. Clausen ab und lächelte. »Tom hat mir gesagt, er hängt sehr an seinem Großvater. Und er wird erleichtert sein, dass er noch am Leben ist. Es war einfach eine logische Konsequenz seines Verstandes, eine Voraussetzung für sein eigenes Überleben.«
    »Aber … wenn Sie sagen, er hat das alles getan, um sich zu schützen, was hat ihn dann dazu bewogen, diesen Schutz aufzugeben?«
    »Tja, etwas in ihm schien wohl der Meinung zu sein, dass es Zeit dafür sei. Nennen Sie es Instinkt oder Überlebenswillen. Sein Verstand hat jedenfalls ein eindrucksvoll ausgeklügeltes Katz-und-Maus-Spiel entworfen, um ihn aus der Reserve zu locken und über seinen eigenen Schatten springen zu lassen. So war er quasi gezwungen, sich mit seinen Ängsten auseinanderzusetzen und seine vermeintliche Sicherheit zu verlassen. Das ist mit Abstand der erstaunlichste Fall von Selbstheilung, der mir je untergekommen ist.« Dr. Clausen geriet erneut ins Schwärmen. »Natürlich ist der Fall Ihres Sohnes sehr speziell, zumal er strenggenommen nicht einmal in einem richtigen Koma gelegen hat, sondern sich lediglich auf einer anderen Bewusstseinsebene befunden hat. Trotzdem erlaubt uns das nie geahnte Einblicke in die Vorgänge im Gehirn eines Komapatienten. Möglicherweise werden wir damit sogar die Medizin in diesem Bereich revolutionieren …« Er hielt inne, als er Miriam Kesslers verstörten Blick bemerkte, spielte nervös mit seiner Brille herum und räusperte sich verlegen. »Bitte entschuldigen Sie«, brummte er beschämt. »Zu viel Koffein, nehme ich an.«
    »Sie behaupten also, mein Sohn hat fast vier Jahre in einer Einbildung gelebt?«
    »Wenn Sie so wollen, ja. Aber ich würde es eher als ein komplexes Gebilde aus realen Erinnerungen und Eindrücken sowie aus der immensen Kreativität seiner Vorstellungskraft ansehen. Nehmen wir zum Beispiel das Haus Ihrer Eltern. Er kannte so gut wie jeden Zentimeter des Grundstücks und der
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