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Stigma

Stigma

Titel: Stigma
Autoren: Michael Hübner
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medizinischen Kenntnisse auf diesem Gebiet. Es war quasi die Quelle seiner Inspiration.«
    Toms Mutter versuchte vergebens, die Tränen zurückzuhalten. »Er … er hat mich gehört … Er hat meine Stimme gehört«, wiederholte sie völlig aufgewühlt, während die Tränen auf das Papier tropften.
    »Ja«, sagte Dr. Clausen, »das hat er. Nur hat er sie nicht direkt als die Ihre interpretiert. Er hat sie als seine unterbewusste Schreibstimme angesehen, die ihm die Texte diktierte.« Er lächelte sie an. »Sie waren sozusagen seine Muse.«
    Miriam Kessler atmete tief durch. Trotz der Tränen trat ein schwacher Glanz in ihre braunen Augen. »Wenn es stimmt, was Sie sagen, dann war also ein Teil seines Bewusstseins ständig in Kontakt mit uns?«
    Dr. Clausen öffnete eine Schublade seines Schreibtisches und reichte ihr eine Schachtel Papiertücher. »Nun ja«, meinte er dann, »obwohl seine Zeit- und Datumsangaben mit unseren übereinstimmen, gehen wir davon aus, dass es zumindest in den letzten Monaten seines Komas nicht ständig so war, sondern nur in bestimmten Abschnitten, da sein Unterbewusstsein ihn weitestgehend abgekapselt hatte, um seiner Fantasie freien Raum zu lassen. Deshalb konnte er zum Schluss auch Ihre Stimme nicht mehr wahrnehmen, was er als Schreibblockade gedeutet hat.« Dr. Clausens Finger bildeten ein Dreieck, dessen obere Spitze sein Kinn berührte. Die Geste eines Denkers. »Gibt es im Haus Ihrer Eltern eigentlich einen Wintergarten?«, fragte er.
    »Nein«, antwortete Miriam Kessler überrascht, »nicht dass ich wüsste.«
    »Das habe ich mir gedacht. Der gehört wohl zu den baulichen Veränderungen, die er in seiner Fantasie vorgenommen hat. Laut Toms Angaben befanden sich in dem Raum auch eine Uhr und ein Fernseher. Es ist davon auszugehen, dass diese Dinge für ihn Synonyme für Zeit und Raum waren. Mit anderen Worten: Sie waren seine Antennen nach draußen. Er sagt, er habe sich immer dort aufgehalten, wenn er sich der Welt entziehen wollte. Da seine Welt aber nun mal nicht wirklich existiert hat, bedeutet das unweigerlich, dass sich sein Bewusstsein in solchen Momenten der Realität genähert hat, indem es äußere Einflüsse wahrnahm wie Stimmen oder Bilder. Das ist wohl auch passiert, wenn er geschlafen hat, extreme Angst hatte oder sich durch irgendetwas bedroht fühlte. Durch meine Anwesenheit zum Beispiel«, fügte er bedrückt hinzu. »Er hat mich an diesem Tag nicht in seinem Garten gesehen, sondern vor seinem Bett. Vielleicht war es nur ein kurzes Aufflackern seines Bewusstseins, ein schnell verblassendes Bild in seiner Wahrnehmung, aber es hat ausgereicht, um mich in seine Fantasie einzubinden. Das erklärt auch die starke Reaktion, als er aufgewacht ist und als Erstes mich gesehen hat. Das muss ihn ziemlich verwirrt haben, das können Sie sich bestimmt vorstellen.«
    »Also, das klingt alles sehr theoretisch.« Miriam Kessler rieb sich erschöpft die Stirn. »Und wie ich zugeben muss, auch ziemlich ungewöhnlich.«
    »Das ist es auch, in der Tat. Nichts ist so komplex und verschachtelt wie das menschliche Gehirn. Durch den Fall Ihres Sohnes haben wir die einmalige Chance, einen detaillierten Einblick in die Denk- und Arbeitsprozesse des Gehirns zu bekommen, denn wie er uns mitgeteilt hat, erinnert Tom sich erstaunlicherweise an fast jedes Detail seines Komas. Das liegt vermutlich daran, dass es Bestandteil des Heilungsprozesses war, sein Erinnerungsvermögen zu stimulieren. Und die Fakten, die er uns liefert, sind einfach phänomenal.«
    »Tja, das mag ja alles sein«, räumte Miriam Kessler ein und verzieh Dr. Clausen diesen erneuten Anflug ärztlicher Leidenschaft. »Aber eigentlich interessiert mich als seine Mutter nur eines: Hat mein Sohn durch diese ganze Geschichte irgendwelche Schäden davongetragen?«
    »Nach dem, was unsere Untersuchungen bis jetzt ergeben haben, eindeutig nicht. Im Gegenteil, geistig gesehen ist Ihr Sohn seinem Alter sogar um Jahre voraus.«
    Miriam Kessler lachte auf. »Ja«, sagte sie und seufzte. »Das war er schon immer.«
    »Auch seine körperliche Entwicklung und sein geschlechtliches Verhalten unterscheiden sich in nichts von dem eines durchschnittlichen Teenagers in seinem Alter.«
    »Geschlechtliches Verhalten?«, fragte Toms Mutter erstaunt.
    »Nun ja«, meinte Dr. Clausen zurückhaltend. »Wie es scheint, hat er seiner Therapeutin gegenüber gewisse … nun ja … Gefühle entwickelt. Auf einer ganz besonderen, eher triebhaften Ebene …
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