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Stigma

Stigma

Titel: Stigma
Autoren: Michael Hübner
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man ihn angesprochen hat, waren mit denen eines völlig Gesunden gleichzusetzen.«
    Miriam Kessler starrte auf die gezackten Linien. »Aber … davon haben Sie mir nie etwas gesagt.«
    »Weil wir Ihnen keine falschen Hoffnungen machen wollten, solange wir uns nicht sicher waren. Und weil wir uns das zunächst selbst nicht erklären konnten. Ihr Sohn hat alle Anzeichen eines Apallischen Syndroms gezeigt, aber sein Gehirn schien völlig intakt zu sein.« Wieder blätterte er in dem Ordner und löste ein weiteres Blatt heraus. Es zeigte den Querschnitt eines menschlichen Gehirns. Dr. Clausen zeigte auf einen geschwungenen Bereich im inneren Zentrum. »Das hier ist das limbische System«, erklärte er. »Das ist eine Funktionseinheit unseres Gehirns, die der Verarbeitung von Emotionen dient. Auch intellektuelle Fähigkeiten werden dieser Region zugeschrieben.« Er deutete auf einen muschelförmigen Auswuchs im unteren Bereich. »Das hier ist die Amygdala, auch Mandelkern genannt, und dahinter befindet sich der Hippocampus. Diese beiden Regionen sind für das Angstempfinden und das Abspeichern von Gefühlen verantwortlich. Es ist quasi unser internes Alarmsystem, wenn Sie so wollen. Anhand verschiedenster Messungen und Untersuchungen konnten wir nachweisen, dass – neben dem Bereich, der für die Vorstellungskraft verantwortlich ist – dieser Teil von Toms Gehirn immer wieder ungewöhnlich aktiv war. Außerdem haben wir dann jedes Mal einen rapiden Anstieg von Blutdruck und Puls registriert.«
    Er reichte Toms Mutter die Skizze und wandte sich wieder seinem Ordner zu. »Im Internet bin ich auf eine neue Studie gestoßen, bei der mithilfe funktioneller Magnetresonanz-Tomografie Hirnaktivitäten bei einem Wachkomapatienten festgestellt werden konnten, die denen eines normalen Menschen entsprachen.« Er entnahm dem Ordner drei weitere Blätter und reichte sie ebenfalls Toms Mutter. »Dabei gab es eindeutige Hinweise auf visuelle Bewusstseinsprozesse im Hirn des Betroffenen, was die allgemeine Lehrmeinung widerlegt, dass solche Patienten äußere Einflüsse nicht wahrnehmen und darauf reagieren können. Also haben wir diese Erkenntnisse auf Ihren Sohn übertragen.«
    »Okay – halt!« Miriam Kessler warf die Blättersammlung auf den Schreibtisch und atmete tief durch. »Ich habe in den letzten drei Nächten kaum geschlafen und kann Ihnen nicht ganz folgen.« Sie rieb sich die Augen. »Wahrscheinlich verstehe ich dieses ganze Zeug ohnehin nicht.«
    »Was ich Ihnen zu erklären versuche«, begann Dr. Clausen geduldig von Neuem, »ist, dass wir am Anfang einfach zu wenig Anhaltspunkte für die Ursache seines Komas hatten. Genauer gesagt war es uns sogar ein Rätsel«, fügte er hinzu. »Als Ihr Sohn damals eingeliefert wurde, konnte uns niemand genau sagen, wie lange sein Herz ausgesetzt hatte. Wir konnten also keinerlei Rückschlüsse ziehen, ob sein Großhirn durch Sauerstoffmangel geschädigt worden war, und wenn ja, wie stark. Aufgrund seines wachen, aber nicht ansprechbaren Zustands haben wir schließlich ein Apallisches Syndrom diagnostiziert. Aber eine direkte Schädigung konnten wir nicht nachweisen. Auf dem CT erschien jedenfalls alles normal. Wir hatten keinerlei Erklärung dafür.«
    »Aber jetzt haben Sie eine?«, fragte Miriam Kessler ein wenig skeptisch.
    »Nun, zumindest wissen wir jetzt, dass unsere Ergebnisse korrekt waren. Das Gehirn Ihres Sohnes war die ganze Zeit vollkommen intakt.«
    »Aber was hat dann diesen Zustand ausgelöst?«
    »Ganz einfach.« Dr. Clausen sah sie ernst an. »Er hatte fürchterliche Angst!«
    Miriam Kessler starrte ihn erstaunt an. »Angst?«
    »Ja«, bestätigte Dr. Clausen noch einmal. »Ihr Sohn litt unter heftigen, ständig wiederkehrenden Panikattacken, die vermutlich der Grund dafür waren, dass sein Bewusstsein blockiert war.«
    »Panik? … Aber wovor denn? Ich meine, er war hier doch in Sicherheit.«
    »Es war nicht seine Umgebung, die ihm Angst gemacht hat. Es war das, was er in diesem Keller erlebt hat, und die Grausamkeiten, mit denen er dies verknüpft hat.«
    Toms Mutter saß einen Moment lang wie versteinert auf ihrem Stuhl. Dann sank sie zusammen und schlug die Hände vors Gesicht. »Oh Gott«, schluchzte sie. »Was muss er durchgemacht haben!«
    Dr. Clausen schwieg und dachte an das, was Tom ihm erzählt hatte. Er hatte nicht vor, diesbezüglich ins Detail zu gehen.
    »Ja«, sagte er nur und musste Acht geben, dass seine Stimme nicht versagte. Dann räusperte
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