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Stigma

Stigma

Titel: Stigma
Autoren: Michael Hübner
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wenn Sie wissen, was ich meine.«
    Miriam Kessler sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Wollen Sie damit etwa sagen, mein Sohn hatte sexuelle Fantasien von mir?«
    Die Augen des Arztes wurden so groß wie Tischtennisbälle. »Natürlich nicht«, wehrte er ab und wurde blass. »Es waren nicht Sie, an die er dabei dachte«, erläuterte er seine These hastig. »Sondern lediglich jemand, dessen Attraktivität gewisse Instinkte in ihm geweckt hat.« Sofort bemerkte er seinen Fehlgriff. »Womit ich natürlich nicht sagen will, dass Sie nicht attraktiv sind«, setzte er nervös hinzu. Er fühlte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. »Ich meine, rein äußerlich betrachtet, besteht ja eine gewisse Ähnlichkeit, und das ist keinesfalls ungewöhnlich. In mehreren Studien wurde bereits nachgewiesen, dass wir uns bei der Partnerwahl unbewusst von unseren Vorbildern beeinflussen lassen, und dazu gehören in erster Linie die Eltern. Natürlich nicht rein nach optischem Aspekt, mehr durch Übereinstimmungen in der Persönlichkeit.«
    »Nur die Ruhe, Dr. Clausen«, sagte Miriam Kessler und lächelte amüsiert. »Ganz so ernst war das nicht gemeint. Ehrlich gesagt wundert mich das überhaupt nicht, Alter hin oder her. Genau genommen war er vier Jahre verheiratet und ist immer noch Jungfrau.«
    »Nun ja, aus diesem Blickwinkel habe ich das noch gar nicht betrachtet«, bemerkte Dr. Clausen und atmete erleichtert auf.
    »Wie geht es denn nun mit ihm weiter?«, wollte Toms Mutter wissen.
    »Also«, antwortete der Arzt, »es sind noch mehr Tests und Gespräche nötig, bis wir alle Daten zusammenhaben. Und natürlich wird eine umfangreiche physiotherapeutische und psychologische Nachbetreuung stattfinden. Aber im Grunde bin ich sicher, dass Ihr Sohn ein ganz normales Leben führen kann.«
    »Was ist mit den Vorfällen in diesem Keller?«
    »Tja, selbstverständlich wird ein so schwerwiegendes Trauma immer Bestandteil seines Lebens bleiben, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er es gar nicht besser hätte aufarbeiten können.«
    »Ich meine das, was sein Vater dort unten getan hat.«
    Der Arzt schwieg.
    »Sagen Sie es mir, Dr. Clausen«, drängte sie ihn. »War es die Tat meines Mannes, die Tom in diesen Zustand getrieben hat?«
    Er zögerte. »Na ja«, antwortete er verhalten. »Es ist zumindest die letzte bewusste Erinnerung, die Tom von dort hat. Aber es steht außer Frage, dass die Misshandlungen die Hauptschuld am Rückzug seines Bewusstseins tragen«, fügte er schnell hinzu. »Die Reaktion seines Vaters hat das Fass vermutlich nur zum Überlaufen gebracht. Alles, was er zuvor mit Liebe und Geborgenheit – mit dem Gefühl eines Zuhauses – in Verbindung gebracht hat, war plötzlich mit Gewalt und Schrecken verbunden, schien mit einem Mal nicht besser zu sein als die brutale und willkürliche Grausamkeit, der er ausgesetzt gewesen war. Er hatte die Kinderleichen gesehen, hatte ihre Qualen mit ihnen geteilt. Und dann hat sich ihm das Bild seines Vaters eingeprägt, der sich auf dieselbe Stufe begeben hat, der vor seinen Augen quasi ebenfalls zum Monster wurde. Die Grenzen zwischen Gut und Böse waren für ihn nicht mehr zu erkennen. Ich nehme an, das war der eigentliche Grund seines endgültigen Rückzugs. Er hatte seinen Glauben an das Gute im Menschen verloren.«
    Miriam Kessler senkte betroffen den Blick und nickte. »Ich verstehe«, sagte sie mit einer Stimme, die nicht verlorener hätte klingen können.
    Dr. Clausen seufzte. »Sie werden ihm sagen müssen, was tatsächlich mit seinem Vater passiert ist. Früher oder später wird er es sowieso erfahren. Aber ich denke, es wäre besser, wenn er es von Ihnen hört.«
    »Ja«, pflichtete Miriam Kessler ihm betrübt bei. »Sicher. Aber halten Sie es unter den gegebenen Umständen für klug, Tom zu sagen, dass sein Vater sich seinetwegen das Leben genommen hat? Dass er es nicht ertragen konnte, ihn in diesem Zustand zu sehen, weil er sich die Schuld dafür gegeben hat?« Erneut stiegen ihr die Tränen in die Augen. »Immer wieder hat er sich Vorwürfe gemacht, dass er gleich beim ersten Mal in das Haus hätte eindringen müssen, ohne auf die offizielle Erlaubnis zu warten.«
    »Ich bitte Sie, wie hätte er das wissen sollen? Ihr Mann hatte genauso wenig Schuld daran wie Sie oder der Junge, der den Ball über den Zaun geschossen hat. Es war ganz einfach Schicksal. Solche Dinge passieren nun einmal, so schlimm das auch ist.«
    »Ich weiß nicht … Ich halte das jetzt für
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