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Ysobel – Das Herz aus Diamant

Ysobel – Das Herz aus Diamant

Titel: Ysobel – Das Herz aus Diamant
Autoren: Marie Cordonnier
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Das Kloster Sainte Anne d’Auray
    im September des Jahres 1364
    »Haltet ein! Das dürft Ihr nicht tun! Das ist Wahnsinn!«
    Die Novizin fiel der strengen Frau in Schwarz in den Arm, so dass der Hammer den Meißel verfehlte und lediglich einen Steinsplitter aus dem altertümlichen Altarblock schlug. Eine unverzeihliche Einmischung. Ysobel hielt unter dem kalten Basiliskenblick der Äbtissin von Sainte Anne den Atem an. Welche Strafe würde die strenge Mutter aussprechen? Wie viele schlaflose Nächte auf Knien vor dem Altar warteten auf sie? Wie viele endlose lange Tage des Fastens und des Schweigens?
    »Wahnsinn ist, was dort draußen geschieht«, entgegnete Mutter Elissa in diesem Moment mit ihrer leisen, emotionslosen Stimme – erstaunlicherweise ohne auf den Ungehorsam der jungen Nonne einzugehen. »Die völlige Narrheit des Krieges, der Macht und der Männer, die sie in den Händen halten! Sie zerstören jede Barmherzigkeit mit dem Schwert und herrschen ausschließlich durch Blut und Gewalt! Aber ich werde verhindern, dass ihr Wahnwitz das Land noch weiter zerstört! Sollen sie sich doch gegenseitig umbringen, damit endliche Ruhe herrscht!«
    Die Greisin legte eine zitternde, faltige Hand auf das misshandelte goldene Kreuz, in dessen Mitte ein geschliffener Diamant von der Größe eines Vogeleies funkelte. Vier tiefe Löcher in den Balken des Kreuzes kündeten davon, dass sich dort ähnliche Juwelen befunden haben mussten, die bereits verschwunden waren.
    Die Jüngere erschauerte und erkannte, was sie noch nie erblickt hatte. Was sie lediglich aus Erzählungen und Sagen kannte. »Es kann nicht sein!«, wisperte sie. »Das kann nicht das Kreuz von Ys sein!«
    »Es ist das Kreuz von Ys!«, bestätigte die Äbtissin. »Es wurde in grauer Vorzeit den frommen Frauen von Sainte Anne anvertraut, aber nun ist das Geheimnis verraten worden!«
    Ysobel versuchte sich zu fassen. Schließlich war sie kein albernes Kind mehr, das die Klosterregeln nicht gekannt hätte. Die endlosen Jahre der Verbannung hatten sie Beherrschung gelehrt. Ihre unruhigen Hände fanden sich zur demutsvollen Geste des Gebets. Nicht, weil sie sonderlich fromm war, sondern weil sie sich selbst daran hindern wollte, nach dem Kreuz zu greifen, das zerkratzt und dennoch in archaischer Schönheit im Licht der flackernden Kerzen geradezu danach verlangte, berührt und beschützt zu werden.
    Jedes Kind in der Bretagne kannte die Legende von König Gradlon, der über die sagenhafte Stadt Ys geherrscht hatte. In der entsetzlichen Flutwelle, die Ys vernichtete, verschwand auch das Kreuz von Ys. Ysobel glaubte die sanfte Stimme ihrer Mutter aus der Vergangenheit zu hören: »Der Mann, welcher das Kreuz von Ys wieder findet und trägt, wird uns den Frieden schenken!«
    Wie oft hatte sie vom höchsten Turm der elterlichen Festung auf die weite Bucht hinaus gestarrt, welche die Mündung des Port Rhu in einiger Entfernung bildete. Um das Flussdelta hatten sich Fischerdörfer angesiedelt, und in der Ferne zeichnete sich der Umriss eines kleinen Inselchens ab, auf dem der Weiler des heiligen Michael stand. Das kleine Mädchen hatte vergeblich die spiegelnde Fläche des Meeres nach einem Hinweis auf die versunkene Stadt gesucht.
    Vor mehr als sechshundert Jahren sollte dort Ys gelegen haben. Die Hauptstadt König Gradlons, von Deichen und einer großen Schleuse vor den Meeresfluten geschützt, deren Schlüssel der König Tag und Nacht bei sich trug. Die Stadt der goldenen Türme und tausend Glocken war untergegangen, als die leichtsinnige Königstochter Dahut ihrem Vater den Schleusenschlüssel entwendete, den ihr Geliebter als Treuebeweis forderte.
    Zu spät hatte die verliebte Dahut gemerkt, dass sich hinter der blendendschönen Fassade des verführerischen Jünglings der Teufel selbst verbarg. Er öffnete die Schleuse und bewirkte den Untergang der Stadt und ihrer Bewohner. König Gradlon hatte nicht mehr als das eigene Leben gerettet, als er dem Befehl des Himmels gehorchte und das flatterhafte Mädchen den Fluten überließ. So zumindest behauptete es die Sage.
    Ein irrwitziger, völlig unpassender Gedanke zuckte durch Ysobels Kopf. Einen Herzschlag lang fragte sie sich höchst neugierig, wie der Teufel aussah, wenn er sich mit männlicher Schönheit schmückte, um eine Königstochter zu verführen. Wie war es, so sehr zu lieben, dass einen weder Vater noch Volk noch Heimat oder Sicherheit kümmerten? Rausch? Seligkeit? Verderben?
    »Warum zerstört Ihr dieses
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