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Ravinia

Titel: Ravinia
Autoren: Thilo Corzilius
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1. Kapitel, in dem Lara bei einer Tasse Kakao herausfindet, dass ein Schlüssel nicht immer gleich ein Schlüssel ist.
    Leben, das ist das Allerseltenste in der Welt – die meisten Menschen existieren nur.
    Â  Oscar Wilde
    Das Wetter ist ein Verräter.
    Genau das dachte Lara, als sie zum ersten Mal an diesem Tag aus dem Fenster auf den tiefgrauen Himmel über Edinburgh sah. Aber was wollte man erwarten, wenn man im Januar Geburtstag hatte?
    Ruhig lag sie da, die Stadt der Treppen. Das Athen des Nordens. Die Stadt der sieben Hügel, auf deren höchstem das Castle thronte. Mit ihren Giebeln und Schornsteinen, ihren Gassen und Treppen. Ja, vor allem mit ihren Treppen, denn davon gab es mehr als genug in dieser Stadt.
    Lara hasste dieses Wetter. Konnte nicht ein Mal, ein einziges Mal in sechzehn langen Jahren die Sonne an ihrem Geburtstag scheinen? Natürlich nicht. Was wäre das denn auch für ein schottischer Neujahrstag, wenn nicht wenigstens das Wetter dem Ruf des Landes alle Ehre machen würde! Es musste rau sein, wie es sich gehörte.
    Sie setzte sich auf, schwang ihre Füße aus dem Bett, hinein in die flauschigen blauen Pantoffeln, mit denen es auf dem Holzboden in ihrem Zimmer nicht ganz so kalt war, und schlurfte zu ihrer Fensterbank unter der Dachgaube. Abgestützt auf beide Hände seufzte sie. Ja, sie hatte es schon vom Bett aus richtig gesehen. Der Himmel war grau. Grelles, furchtbar grelles Winterhimmelgrau. Sie schüttelte sich, stellte fest, dass sie Durst hatte, und sah auf die Uhr. Punkt zwölf. Kein Wunder, war doch gestern Hogmanay – das schottische Silvester – gewesen. Außerdem meinte ihr Großvater andauernd, solange sie jung sei, habe sie die Verpflichtung, lange zu schlafen. Früh aufstehen könne man, wenn man müsse oder wenn das Alter einen nicht mehr lange schlafen ließe.
    Es klopfte. Lara verfluchte sich im Stillen, da sie das Knarren der Stufen zu ihrem Dachzimmer nicht gehört hatte. Hätte sie es gehört, hätte sie sich schnell wieder ins Bett legen können, um ihrem Großvater das Vergnügen zu lassen, sie mit dem obligatorischen Geburtstagsfrühstückstablett zu wecken.
    Die Tür ging langsam auf und ein vielsagender Duft streckte sich diebisch nach Laras Nase aus. Verstohlen spähte das hagere Gesicht von Henry McLane über ein randvolles Tablett hinweg durch den Türspalt. Als er Lara nicht in ihrem Bett liegen sah, war es aus mit der Vorsicht. Die Tür bekam einen leichten Tritt und schwang vollständig auf.
    Â»Nanu«, verschaffte sich die Verwunderung des alten Mannes Raum. »Bist du so aufgeregt, dass du das Schlafen vergessen hast?«
    Lara musste schmunzeln.
    Â»Nein, ich habe es nur nicht mehr rechtzeitig zurück ins Bett geschafft.«
    Er grinste.
    Â»Soll ich wieder rausgehen? Ich gebe dir zwei Minuten, sonst wird der Kakao kalt.«
    Mit einem Satz sprang Lara ins Bett, die Pantoffeln schleuderte sie im Flug gekonnt von sich.
    Â»Nicht nötig«, strahlte sie.
    Henry McLane trat ein und stellte das Tablett auf der zerwühlten Bettdecke ab, beugte sich vor und umarmte seine Enkeltochter behutsam.
    Â»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«
    Â»Sagtest du heute Nacht schon.«
    Â»Und ein frohes neues Jahr«, setzte er hinzu. »Ich weiß, das habe ich heute Nacht auch schon gesagt. Dennoch halte ich den doppelten Glückwunsch nicht für verschwendet.«
    Lara beäugte gespannt das Tablett. Dort war alles aufgehäuft, was zu einem ausführlichen schottischen Frühstück gehörte: Eier, Speck, gegrillte Tomaten, gebackene Bohnen, Toastbrot, Pilze, Black Pudding und eine Portion des schottischen Nationalgerichts Haggis – scharf angebratene Schafsinnereien –, auf der eine kleine Kerze thronte.
    Sie verzog das Gesicht.
    Â»Hätte es nicht ein Stückchen Kuchen getan? Für die Kerze?«
    Â»Kuchen gibt es erst heute Nachmittag«, sagte ihr Großvater. »Aber wieso interessiert dich eigentlich das Essen? Ich dachte, du würdest zuerst die Geschenke an dich reißen.«
    Lara warf ihm einen gespielt vorwurfsvollen Blick zu.
    Â»Ich bin sechzehn. Ich denke, in diesem Alter sollte die Vernunft anfangen, den Verstand zu lenken.«
    Henry zog die Augenbrauen hoch. »So intellektuell am frühen Morgen? Ich dachte, du bist immer schon vernünftig gewesen?«
    Â»Weder ist es früher Morgen,
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