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Ysobel – Das Herz aus Diamant

Ysobel – Das Herz aus Diamant

Titel: Ysobel – Das Herz aus Diamant
Autoren: Marie Cordonnier
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drücken!«
    Das Zetern verlor sich auf der Wendeltreppe, die zum Sonnengemach der Burgherrin in den Südturm führte. Ysobel stieß den angehaltenen Atem aus und verließ ihr Versteck in der Nische hinter dem Wandteppich, auf dem ein finster dreinblickender Jäger einen gewaltigen Eber mit dem stählernen Sauspieß durchbohrte.
    Ob sich Gratien dieser Kinder-Zuflucht erinnerte? Damals war seine Schwester die Dame gewesen, die hinter dem stämmigen Ritter herwackelte, der mit seinen sechs Jahren furchterregend mit einem Holzschwert fuchtelte und seine kleine Schwester in diesen Spielen wahlweise als Edelfrau, Drachen oder Kriegsbeute einsetzte.
    Heute war sie ein Ärgernis für ihn. Ein Phantom der Vergangenheit, das es gewagt hatte, die Klostermauern hinter sich zu lassen und Zuflucht im Elternhaus zu suchen. Aber dort herrschten schon längst nicht mehr ihre Eltern, und auch nicht Gratien. Die alte Burgfestung von Locronan stand unter der gnadenlosen Fuchtel seiner ehrenwerten Gemahlin, der Dame Mathilda.
    Ysobel verzog bitter den Mund. Der fünfzehnjährigen Braut Mathilda de Pornichet verdankte sie es, dass man sie wenige Tage vor ihrem dreizehnten Geburtstag nach Sainte Anne d’Auray abgeschoben hatte. Vermeintlich, um ihr die Ausbildung einer perfekten Edeldame zukommen zu lassen. In Wirklichkeit, weil die junge Herrin keine Schwägerin neben sich duldete, die sie sowohl an Schönheit und Grazie wie auch an Intelligenz und Auffassungsgabe weit hinter sich ließ. Keinen ganzen Mond nach der Hochzeit hatten sich bereits die Klosterpforten für immer hinter ihr geschlossen.
    Die vergangenen zwölf Jahre hatten weder Thildas Güte noch ihre Schönheit gesteigert. Mit siebenundzwanzig war sie eine hagere Blondine, die nicht vorhandene Rundungen mit einem Übermaß an Samt und Seide vortäuschte und sich den sehnigen Hals mit Perlen und Goldketten verschönte. Ein Lächeln hätte sie womöglich anziehender gemacht, aber der Anblick der Schwester ihres Gemahls, die so unerwartet wieder in Locronan aufgetaucht war, hatte sie lediglich dazu veranlasst, die schmalen Lippen noch ein wenig fester aufeinanderzupressen.
    Ein neuerlicher ferner Ruf riss Ysobel aus ihren düsteren Gedanken. Sie raffte die schmucklose braune Tunika, die sie über einem Untergewand aus grobgewebtem Leinen trug, und eilte in die entgegengesetzte Richtung davon. Ihre bloßen Füße verursachten keinen Laut auf den polierten, schwarzweißen Steinplatten des Ganges, die vom Reichtum der Burg und ihrer Bewohner kündeten. Einem Reichtum, an dem Ysobel keinen Anteil hatte.
    Kaum dass man sie am unteren Teil der Tafel duldete, wo das Gesinde seine karge Kost erhielt. Sobald sie sich niederließ, fand Dame Thilda unmittelbar darauf eine Aufgabe für sie, die dringend erledigt werden musste. Meist auch noch eine Arbeit, die sie aufhielt, bis die Schüsseln vom Besten geleert waren, und nur noch die Reste für sie übrigblieben. Hätte die Herrin gewusst, dass diese Nahrung immer noch üppiger ausfiel als alles, was in Sainte Anne auf den Tischen der frommen Schwestern gestanden hatte, hätte sie vermutlich einen Weg gefunden, Ysobel auch diesen Genuss zu verderben.
    Hass und blanker Neid beherrschten die Dame, sobald sie die schmale Gestalt Ysobels erblickte. Der armdicke, glänzende, kupferfarbene Zopf Ysobels taillenlanger Haare beleidigte das fade Blond ihrer dünnen Locken. Allein die Art, wie dieser Zopf mit seinem Schwung die königliche Anmut ihres Schrittes und ihrer Bewegungen untermalte, brachte Mathilda de Locronan zum Kochen. Ganz zu schweigen von den verführerischen Konturen eines runden Busens und einer schmalen Taille, die auch das schlichteste Gewand nicht verbergen konnte.
    Zudem hatten das goldene Lodern der hellbraunen Augen, der stolze Schwung der edlen Nase und die vollen, sinnlich geschwungenen Lippen in einem ovalen Gesicht mit vollendet gleichmäßigen Zügen in den vergangenen Jahren an Klarheit und Profil gewonnen. Ein übermütiges Mädchen, welches das Versprechen künftiger Schönheit wie einen stolzen Mantel um sich trug, war nach Sainte Anne geschickt worden, nur damit es als vollendetes Traumbild wieder auftauchte.
    Ein Anblick, der Dame Thilda peinigte wie ein Rosendorn, der direkt unter der Haut eiterte und schmerzte. Wo sie mit Salben, Tinkturen und Kräuterpäckchen gegen die bräunlichen Punkte kämpfte, die der kleinste Hauch Sonne auf ihrer Nase und ihren Wangen entstehen ließ, konnte Ysobel stundenlang bei der
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