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Sterben auf Italienisch - Ein Aurelio-Zen-Roman

Titel: Sterben auf Italienisch - Ein Aurelio-Zen-Roman
Autoren: Michael Dibdin
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    Der Tote parkte sein Auto am Ortsrand neben einer bröckeligen Mauer, die die Grenze eines steinigen, mit verkrüppelten Eichen und staubigem Gestrüpp überwucherten Ödlands markierte, über dessen Besitz seit mehr als drei Jahrzehnten ein Rechtsstreit geführt wurde und das für die Einheimischen im Laufe der Zeit zur inoffiziellen Müllkippe geworden war. Die Ankunft des glänzenden silbergrauen Lancia wurde von mehreren Augenpaaren beobachtet, und die Nachricht verbreitete sich rasch im ganzen Dorf, doch obwohl die Luxuslimousine unbewacht und unverschlossen abgestellt wurde, machte sich niemand daran zu schaffen, weil der Fahrer ein toter Mann war.
    Die Einzigen, die ihn aus der Nähe sahen, waren drei Jungen im Alter von fünf bis zehn Jahren, die im dichten Gebüsch unter der steilen Felswand Wildschweinjagd spielten. Der Fünfjährige, der das Beutetier war, war gerade gefangen worden und sollte erlegt werden, als ein Mann wenige Meter unter ihnen auf dem Pfad auftauchte. Er war Ende fünfzig oder Anfang sechzig, von mittlerer Statur, hatte blasse Haut und dichtes Haar, das tiefschwarz war. Er trug einen schwarzen Anzug aus einem billigen synthetischen Material, und ein breiter Stehkragen, der etwas Klerikales an sich hatte, aber matt und schwarz war, umschloss seinen Hals. Gleich darunter hing ein großes metallenes Kruzifix. Im Übrigen waren Oberkörper und auch die Füße des Mannes nackt. Er schleppte sich schweigend den steilen Pfad zum alten Dorf hinauf, blickte starr vor sich auf den Boden und ließ durch nichts erkennen, ob er die drei Zuschauer bemerkt hatte.
    Sobald er außer Sichtweite war, wollten die beiden kleineren Jungen ihm unbedingt folgen, als eine Art Mutprobe. Sabatino, der Älteste, verwarf die Idee mit einer einzigen Kopfbewegung. Zwar hatte ihn niemand über dieses Ereignis in Kenntnis gesetzt, doch die Gemeinschaft, in der die drei lebten, war wie ein gewaltiger Resonanzboden, wenn es um Nachrichten ging, die ihre Mitglieder betreffen könnten. Auch wenn Sabatino nicht den ersten Ton gehört hatte, der irgendwo angeschlagen worden sein musste, so hatte er doch unbewusst die sekundären Schwingungen dieses komplexen Instruments aufgenommen, die von anderen Stellen widerhallten. »Gefahr!«, hatten sie geflüstert. »Halt dich bedeckt, misch dich nicht ein, wisse von nichts!« Kurzerhand tauschte er seine Rolle als der berühmte, furchtlose Wildschweinjäger gegen die des verantwortungsbewussten älteren Jungen, schnappte sich seinen Freund Francesco und den anderen Jungen und führte sie über einen Seitenpfad in die Sicherheit des Dorfes zurück.
    Der einzige Zeuge, der mitbekam, was dann geschah, war eine Gestalt, die auf einem Bergkamm etwa einen Kilometer entfernt auf der anderen Seite des Tals das Geschehen durch ein Fernglas beobachtete. Der Tote folgte dem Pfad, bis dieser oberhalb der letzten verbliebenen Bäume keine gerade Linie aus festgetretenem Boden und struppigem Gras mehr war, sondern zu einer aus der Felswand herausgeschlagenen steinigen Rampe wurde, in die die eisernen Beschläge der Wagenräder früherer Zeiten tiefe Furchen gegraben hatten. Mittlerweile litt il morto deutliche Qualen, doch er kämpfte sich weiter voran, blieb häufig stehen, um nach Luft zu schnappen, bevor er ein weiteres Stück des glühend heißen Felsens in Angriff nahm, auf dem seine Fußsohlen blutige Abdrücke hinterließen. Über seinem bloßen Haupt schwebte die Sonne wie ein Habicht am wolkenlosen Himmel.
    Der einsame Hügel, den er bestieg, war beinahe rund und bis auf seinen vulkanischen Kern erodiert, und danach war er als Steinbruch für Baumaterial benutzt worden, so dass er fast flach wirkte, als ob er mit einer Säge gestutzt worden wäre. Als der Tote endlich flachen Boden unter den Füßen hatte, brach er zusammen und blieb eine Zeitlang reglos liegen. Um ihn herum war alles völlig verfallen. Die Überreste eines mächtigen Torbogens, dessen Steinblöcke zu groß und zu widerspenstig für den Abtransport gewesen waren, lagen noch am Rand des Abgrunds, wo die primitive Straße in das einstige Dorf geführt hatte, doch wenn man zum ehemaligen Ortskern blickte, standen dort nur noch die Ruinen von Häusern und eine kleine Kirche und gegenüber dieser Kirche ein imposantes Mauerfragment, das einen prunkvollen Eingang umrahmte, zu dem fünf Marmorstufen hinaufführten. Überall lagen Geröllhaufen, auf denen Unkraut und kleine Büsche wuchsen. Die abgerundeten Pflastersteine der
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