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Sterben auf Italienisch - Ein Aurelio-Zen-Roman

Titel: Sterben auf Italienisch - Ein Aurelio-Zen-Roman
Autoren: Michael Dibdin
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Hauptstraße waren jedoch noch deutlich zu sehen, und der Tote folgte ihnen, vor Schmerzen stöhnend, bis das Kopfsteinpflaster auf eine kleine Piazza mündete.
    Dort ging er auf die Kirche zu, senkte den Kopf und bekreuzigte sich auf der Schwelle. Zehn Minuten vergingen, bevor er wieder auftauchte. Er blieb einen Augenblick stehen und starrte auf die massiven Überreste der Steinfassade, die den Platz beherrschte, dann ging er zu der Treppe, die zu dem klaffenden Eingangsloch hinaufführte, kniete nieder und kroch langsam auf den Knien die Stufen hinauf, eine nach der anderen, bis er die oberste erreicht hatte. Ein wilder Feigenbaum hatte sich in der verkohlten Ödnis des ehemaligen Gebäudes von alleine gepflanzt und nährte sich von einer verborgenen Wasserquelle tief im Boden. Der Tote beugte sich über den Baum und küsste eines seiner Blätter, dann neigte er sich so weit herab, bis er mit der Stirn die leicht erhöhte Eingangsstufe berührte.
    Der Mann, der von dem Bergkamm gegenüber die Szene beobachtete, senkte sein Fernglas, nahm etwas, das wie ein übergroßes Handy aussah, vom Armaturenbrett des Jeep Grand Cherokee, der neben ihm parkte, zog die lange Antenne heraus und drückte eine der Tasten im Bedienfeld. Das Geräusch, das daraufhin eine Zeitlang von den Felswänden des Tals widerhallte, hätte man durchaus für ein fernes Donnern halten können.

2
    Eine volle Gabel in der Hand, die zwischen Teller und Mund verharrte, saß Zen da und beobachtete den Mann am Nebentisch. Dessen hageres, kantiges Gesicht sah aus, als wäre es mit einer Kettensäge aus einem knorrigen Holzklotz geschnitten worden, doch Zen wartete darauf, dass dem Mann der Kopf platzte. Beide hatten das Tagesgericht der Trattoria bestellt, doch Zens Nachbar hatte außerdem pepe verlangt. Dieser wurde auch gebracht, in Form von drei frischen Chilischoten in der Größe von Gewehrpatronen. Der Mann hackte sie in grobe Stücke und verteilte diese samt Kernen über seine Pasta, rührte alles gut um und langte zu.
    Wie schon so oft seit seiner Versetzung nach Cosenza fühlte sich Zen absolut fremd. Er wusste, wenn er auch nur ein winziges Stück von einer dieser Pfefferschoten gegessen hätte, hätte er sich nicht nur die Geschmacksknospen im Mund verbrannt, sondern heftiges Herzklopfen bekommen, verbunden mit Schweißausbrüchen wie kurz vor einem Herzstillstand, und wäre mindestens fünfzehn Minuten lang nicht in der Lage gewesen, zu essen, zu trinken und zu reden oder auch nur zu denken. Sein Nachbar hingegen mampfte die Schoten ohne eine Miene zu verziehen in sich hinein. Ein so grimmiges Gesicht würde zwar vermutlich nie eine Regung zeigen, doch er schien mit seinem Mittagessen zufrieden zu sein.
    Zen stocherte noch ein bisschen in seinem Essen, dann schob er den Teller beiseite. Kleine Stückchen Hammelhaxe lugten zwischen den pampigen Nudeln hervor, die in Tomatensauce ertränkt waren. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, wie diese fade und doch so penetrante Frucht weltweit zum Inbegriff der italienischen Küche hatte werden können, obwohl noch bis vor etwa einem Jahrhundert nur wenige Italiener eine Tomate überhaupt gesehen hatten, geschweige denn sie als Grundbestandteil in jedem Essen betrachteten. Noch während seiner Kindheit in Venedig waren sie eher selten gewesen. Seine Mutter hatte in ihrem ganzen Leben nie mit Tomaten gekocht. »Roba del sud« , hätte sie verächtlich gesagt. Südländischer Kram.
    Was natürlich Zens Frage beantwortete. Die Spanier hatten die Tomate aus den amerikanischen Kolonien mitgebracht und in ihren Herrschaftsgebieten in Süditalien eingeführt, wo sie wie Unkraut wuchs. Die italienischen Emigranten, die in historischen Wellen den Süden verließen, hatten praktisch von diesem billigen und reichlich vorhandenen Nahrungsmittel gelebt, das im Aussehen passenderweise an die Bilder vom Herzen Jesu erinnerte, die sie an ihre Wände hängten, sowie von der in Flaschen abgefüllten Sauce, die man daraus herstellen konnte, so dass man das ganze Jahr damit versorgt war. Diese Sauce hatten sie zu einem Symbol ihres kulturellen Erbes und ihrer Identität hochstilisiert und dann den leichtgläubigen Ausländern, unter denen sie nun lebten, als Quintessenz der italienischen Küche verkauft.
    Zen gab dem Kellner ein Zeichen. Zwangsvorstellungen waren ein Berufsrisiko in Kalabrien, aber zwanghaftes Nachdenken über Tomaten war absurd. Er zahlte den vereinbarten Preis und antwortete mit einem kurzen Nicken,
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