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Sterben auf Italienisch - Ein Aurelio-Zen-Roman

Titel: Sterben auf Italienisch - Ein Aurelio-Zen-Roman
Autoren: Michael Dibdin
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Leinwand adaptiert werden können, da sie Aspekte des großen menschlichen Epos des jüdischen Volkes darstellen.« Er zog an seiner Zigarre. »Doch weder die Lehren und das Leiden Jesu noch die Drangsale des jüdischen Volkes machen an und für sich das Wesen der biblischen Botschaft aus. Wie alle großen Religionen hat das Christentum sowohl ein menschliches als auch ein übermenschliches - man könnte sogar sagen unmenschliches - Gesicht. Seine Mysterien werden in der natürlichen Welt, die uns umgibt, offenbar, doch ihr fons et origo ist übernatürlich und entzieht sich per definitionem jedem Verständnis.«
    »Wie können denn dann derartige Mysterien auf die Kinoleinwand übertragen werden?«, fragte die Interviewerin.
    Luciano Aldobrandini mochte es nicht, wenn man ihn mitten im Redefluss unterbrach.
    »Alles zu seiner Zeit. Wie ich gerade sagte, haben sich die bisherigen filmischen Umsetzungen der Bibel auf deren menschliche Aspekte konzentriert. Die beiden großen Säulen der Heiligen Schrift, ihr Alpha und ihr Omega, sind natürlich die Genesis und die Offenbarung.« Er lachte. »Als ein Freund von Dino war ich am Rande in John Hustons Bemühungen in den sechziger Jahren involviert, die erste der beiden Säulen filmisch umzusetzen, und in sentimentalen Momenten bedaure ich immer, dass ich nicht freundlicher über das Ergebnis urteilen kann. Doch an die zweite Säule hat sich noch niemand herangewagt, zweifellos weil es immer unmöglich schien, einen solchen Text für die Kamera in Szenen zu zerlegen.«
    Ein junger Mann tauchte im Hintergrund direkt hinter den Scheinwerfern auf und winkte hektisch. Die Interviewerin gab dem Kameramann ein Zeichen, das Band anzuhalten.
    »Ja?«, fragte Aldobrandini kurz angebunden.
    »Marcello ist am Telefon. Er sagt, es sei dringend.«
    »Sag ihm, er soll warten.«
    Der junge Mann verschwand, und das Interview wurde fortgesetzt.
    »Der heilige Johannes von Patmos ist verschiedentlich als inspirierter Visionär, als verstörter Drogenabhängiger oder als unter Wahnvorstellungen leidender Psychotiker beschrieben worden«, fuhr Aldobrandini unbeirrt fort. »Das Werk, für das er berühmt ist, wurde nur gegen großen Widerstand in den Kanon der Bibel aufgenommen und war seitdem immer ein Thema von Kontroversen. Doch die minutiösen theologischen Aspekte interessieren mich nicht. Unbestreitbar ist jedoch, dass in unserer Welt nach dem
    11. September die Offenbarung des Johannes in unserer Gesellschaft viele blankliegende Nerven trifft. Wir alle wissen, wenn Terroristen Zugang zu nuklearen oder biologischen Waffen bekommen, wird das im wahrsten Sinne des Wortes das Ende der Welt bedeuten. Wir wissen außerdem, dass eine solche Aussicht diese Leute keine Sekunde zögern lassen würde und wir somit möglicherweise vom baldigen Aussterben bedroht sind. Und dieses Wissen stellt das notwendige menschliche Element dar, das die eschatologischen Fantastereien des heiligen Johannes heutzutage nicht nur relevant, sondern sogar realistisch erscheinen lässt.«
    Der junge Mann tauchte erneut auf. »Marcello ist schon wieder dran, maestro . Er sagt, es ist eine Angelegenheit von höchster Priorität, und er muss Sie unbedingt sprechen.«
    Luciano Aldobrandini sank angewidert auf seinem Stuhl zusammen. »Bei aller Liebe, Pippo, ich hab dir doch gesagt, ich will nicht gestört werden! Was glaubst du eigentlich, wofür ich dich bezahle? Nun ja, die Antwort kennen wir wohl beide. Mein Agent sollte allerdings für mich arbeiten, und nicht umgekehrt. Sag ihm, ich ruf ihn an, wenn ich so weit bin.«
    Er drehte sich wieder zur Kamera, doch diesmal hatte der Zwischenfall ihn eindeutig verunsichert, und er schien den Faden verloren zu haben.
    »Dennoch ist nur schwer vorstellbar, wie der eigentliche Inhalt der Offenbarung erfolgreich verfilmt werden kann«, versuchte die Interviewerin ihm auf die Sprünge zu helfen. »Der Text liest sich eher wie ein brutales Fantasy-Videospiel. Man könnte sich vielleicht eine japanische Anime-Version vorstellen, doch wie ich gehört habe, sollen die Außenaufnahmen für Ihr Werk in Kalabrien gedreht werden.«
    »Das Rohmaterial, ja. Und einiges wird auch im Rohzustand bleiben. Andere Segmente erscheinen vielleicht als Standbild, in Zeitlupe oder stark beschleunigt. Im apokalyptischen Erleben wie in der einsteinschen Physik werden Zeit und Raum völlig relativ. Der größte Teil des Filmmaterials wird radikal geschnitten und nachträglich mit allen Mitteln moderner
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