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Frevelopfer

Frevelopfer

Titel: Frevelopfer
Autoren: Arnaldur Indriðason
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Eins
    Er zog seine schwarze Jeans, ein weißes Hemd und ein bequemes Jackett an, schlüpfte in seine besten Schuhe, die er sich vor drei Jahren zugelegt hatte, und ging im Geiste bestimmte Lokale in der Innenstadt durch, die eine von ihnen ihm gegenüber erwähnt hatte.
    Während er vor dem Fernseher saß und den richtigen Zeitpunkt abwartete, um in die Stadt zu gehen, mixte er sich zwei Drinks. Er durfte nicht zu früh los, weil dann womöglich jemand auf ihn aufmerksam werden würde, wenn er zu lange in einem halb leeren Lokal herumhing. Genau das galt es zu vermeiden. Das Wichtigste war, in der Menge unterzutauchen, nicht aufzufallen, ein Gast wie jeder andere zu sein. Er durfte keine Aufmerksamkeit auf sich lenken, musste unbemerkt bleiben. Falls ihm später wider Erwarten Fragen gestellt würden, hatte er den ganzen Abend zu Hause vor dem Fernseher verbracht. Wenn alles nach Wunsch verlief, würde niemand sich daran erinnern, ihn irgendwo gesehen zu haben.
    Als es Zeit war, stand er auf, trank sein Glas aus und verließ das Haus. Er war ein wenig angeheitert. Seine Wohnung lag in der Nähe des Zentrums, und im herbstlichen Dunkel steuerte er zu Fuß die erste Kneipe an. In der Innenstadt wimmelte es bereits von Menschen, die sich ins Wochenendvergnügen stürzen wollten. Türsteher bauten sich vor den Eingängen auf, und die Leute beschwerten sich, wenn sie nicht gleich eingelassen wurden. Musik drang bis auf die Straße hinaus. Der Essensgeruch aus den Restaurants vermischte sich mit dem Alkoholdunst aus den Kneipen. Schon jetzt waren einige Leute betrunken. Er fand sie abstoßend.
    Nach relativ kurzer Wartezeit wurde er eingelassen. Das Lokal war im Moment zwar nicht besonders angesagt, doch an diesem Abend war es brechend voll. Das war gut so. Auf seinem Weg durch die Stadt hatte er bereits nach Mädchen oder jungen Frauen Ausschau gehalten, die möglichst nicht über dreißig und nicht mehr ganz nüchtern sein durften. Sie sollten etwas beschwipst sein, aber nicht zu sehr.
    Er verhielt sich unauffällig und fühlte noch einmal in seiner Jackentasche nach, ob er es dabeihatte. Das hatte er schon mehrmals auf dem Weg in die Stadt gemacht und dabei überlegt, dass er wohl einer von diesen nervösen Typen war, die dauernd alles kontrollieren mussten: ob sie die Tür zugeschlossen hatten, ob sie die Schlüssel auch nicht vergessen hatten, ob die Kaffeemaschine wirklich ausgestellt war, ob noch eine Herdplatte an war. Das war schon eine regelrechte Manie bei ihm, er hatte in einem Lifestyle-Magazin über derartige Zwangshandlungen gelesen. In demselben Artikel stand auch etwas über einen anderen Tick, den er hatte. Er wusch sich zwanzig Mal am Tag die Hände.
    Die meisten Leute hatten ein großes Bier vor sich stehen, und er bestellte sich ebenfalls eines. Der Barkeeper nahm ihn kaum wahr, und er bezahlte nicht mit Karte, sondern bar. Es war ein Leichtes für ihn, in der Menge unterzutauchen. Die meisten anderen Gäste waren in seinem Alter und saßen oder standen mit Freunden oder Arbeitskollegen zusammen. Der Lärm war ohrenbetäubend, da die Leute versuchten, die gellende Rap-Musik zu übertönen. Er blickte sich in aller Ruhe um und sah einige Cliquen von Freundinnen, aber auch Frauen, die mit ihren Partnern da zu sein schienen, doch keine Frau ohne Begleitung.
    Er verließ die Kneipe, noch bevor er das Glas ausgetrunken hatte. Im dritten Lokal entdeckte er eine Frau, die er kannte. Seiner Schätzung nach war sie um die dreißig, und sie schien allein zu sein. Sie saß zwar zusammen mit etlichen anderen an einem großen Tisch in der Raucherzone, aber sie gehörte offenbar nicht zu der Gruppe. Sie nippte an einer Margarita, und während er sie aus einiger Entfernung beobachtete, rauchte sie zwei Zigaretten. Das Lokal war brechend voll, aber keiner von den Typen, die sich mit ihr unterhielten, schien zu ihr zu gehören. Zwei Männer sprachen sie an, doch sie schüttelte den Kopf, woraufhin sie wieder abzogen. Ein dritter stand eine Weile neben ihr und schien entschlossen zu sein, sich nicht abwimmeln zu lassen.
    Sie war dunkelhaarig, sah gut aus und war ein wenig kräftig gebaut. Sie war geschmackvoll gekleidet und trug einen Rock und ein helles T-Shirt, auf dem »San Francisco« stand. Eine kleine Blume lugte aus dem F hervor. Um die Schultern hatte sie ein schönes Tuch drapiert.
    Sie machte diesem hartnäckigen Verehrer unmissverständlich klar, dass sie ihn loswerden wollte, und er hatte den Eindruck, als
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