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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit
Autoren: Herbert Rosendorfer
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Zweiter Brief
    (Samstag, 13. Juli)
    Teurer Freund Dji-gu.
    Die Zukunft ist ein Abgrund. Ich glaube, ich habe diesen Satz schon auf den Zettel geschrieben, den ich Dir vor drei Tagen an den Kontaktpunkt gelegt habe – hoffentlich hast Du ihn gefunden und machst Dir keine Sorgen um mich. Was ich hier erlebe, ist so vollständig anders als das, was Du kennst und was ich gewohnt bin, daß ich gar nicht weiß, womit ich meine Schilderung beginnen soll. Hier – ich müßte eigentlich nicht »hier« sagen, sondern »jetzt«. Aber dieses »jetzt« ist so unvorstellbar fremd, daß es mir schwerfällt, an die Identität dieses »Ortes« mit dem Ort zu glauben, an dem Du – durch genau tausend Jahre getrennt – lebst. Tausend Jahre, das weiß ich nun, sind ein Zeitraum, den der menschliche Verstand nicht fassen kann. Gewiß: Du kannst zählen – eins, zwei, drei … bis tausend – und Dir dabei vorzustellen versuchen, es vergehe jedesmal ein Jahr dabei, Geschlechter, Kaiser, ganze Dynastien wechselten, die Sterne wanderten … Aber ich sage Dir: tausend Jahre sind mehr als vergangene Zeit. Tausend Jahre sind ein so gewaltiger Berg von Zeit, daß selbst die kühnsten Vögel phantastischer Gedanken ihn nicht zu überfliegen vermögen.
    Tausend Jahre sind nicht »jetzt« und »damals«. Tausend Jahre sind »hier« und »dort«. Ich werde beim »hier« bleiben.
    Ich bin sehr glücklich, daß ich den Kontaktpunkt, an dem ich diesen Brief niederlegen werde, wiedergefunden habe. Es ist mir dank eines Mannes gelungen, der mir viel geholfen hat und noch hilft. Mehr von ihm berichte ich Dir demnächst. Anders als mit fremder Hilfe hätte ich den Kontaktpunkt nicht gefunden, denn unser K’ai-feng hat sich so vollständig geändert, daß ich meine, es müßte eine andere Stadt sein. Das hängt vielleicht damit zusammen, daß der Fluß seinen Lauf gewechselt hat; er fließt jetzt fast genau nach Norden. Die Stadt ist unvorstellbar groß geworden, und es ist nahezu unerträglich laut. Von keinem einzigen der Paläste, die uns für die Ewigkeit gebaut erscheinen, ist auch nur eine Spur noch vorhanden (soweit ich das bisher gesehen habe), von den einfachen Häusern ganz zu schweigen. Selbst die Hügel sind weg. Alles ist flach, dafür sind die Häuser aufgetürmt wie zackige Berge, und kaum ein Baum ragt über die Häuser hinaus. Du würdest nichts, aber auch gar nichts wiedererkennen. Wie das alles zugegangen ist, kann ich mir nicht vorstellen. Ich traue unseren barbarischen Enkeln – ich kann Dir sagen: ein würdeloser, verrohter Haufen – zu, daß sie die Hügel abgetragen haben. Selbst unser Himmel, scheint es mir, hat sich aus dem ständigen Dunst und Ruß in eine fernere Welt zurückgezogen. Es kommt mir fast vor, als wäre ich nicht nur zeitlich, sondern auch örtlich versetzt.
    Ich sitze hier, während ich das schreibe, auf einem Stein. Der Lärm, der mich umtost, ist nicht übermäßig; ein, zwei Li 1
› Hinweis
weiter ist er viel schlimmer. Nicht weit von dem Stein muß das kleine Sommerhaus sein, wo ich Dich vor tausend Jahren und drei Tagen zum Abschied umarmt habe. Es ist kein Staubkorn mehr davon vorhanden. Eine Reihe von häßlichen Häusern steht dort. Den anderen Stein habe ich nicht mehr gefunden, den wir im Park eingerammt haben in der Hoffnung, er werde tausend Jahre überdauern. Zum Glück bin ich nicht auf die Silberschiffchen 2
› Hinweis
angewiesen, die wir in der Höhlung des Steins verborgen haben. Die fünfzig Silberschiffchen, die ich dabei habe, werden reichen. Außerdem habe ich ja als »eiserne Reserve« die fünf schönverzierten Goldbecher.
    Ich wollte, ich könnte unverzüglich zurückkehren, aber ich muß ja den errechneten Zeitpunkt abwarten, und der wird erst in acht Monaten kommen. Eigener Fürwitz hat mich in diese unselige, laute Zukunft gebracht. Bete für meine gesunde Rückkehr. Grüße mir meine Shiao-shiao, die ich nächst Dir, mein Freund, am meisten liebe.
    Kao-tai

Dritter Brief
    (Mittwoch, 17. Juli)
    Geliebter Freund Dji-gu.
    Ja, ich habe einen Menschen in diesem Abgrund, in diesem schwarzen Strudel von Zukunft gefunden. Ich muß gerecht gegen unsere Enkel sein: sogar zwei Menschen, und beim zweiten scheint es mir nicht ausgeschlossen, daß er mein Freund wird, obwohl ich – wie gerade Du weißt – äußerst geizig mit dieser Bezeichnung bin. Zwar brüllt auch Herr Shi-shmi (so heißt der zweite Mensch), aber ich habe das Gefühl, von ihm trennen mich nicht 100000 Li wie von den
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