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Splitterherz

Titel: Splitterherz
Autoren: Bettina Belitz
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Morgenmantel am Frühstückstisch, während Papa ge­schäftig seine Arbeitstasche packte. Mama verschlief das Frühstück normalerweise. Das war Papas und meine Zeit. Wenn überhaupt. Am liebsten war ich um diese Zeit alleine und gerade im Sommer stand Papa gern in aller Herrgottsfrühe auf und verschwand zur Ar­beit. Anscheinend dachte Mama, sie würde es mir mit ihrer Anwe­senheit leichter machen.
    »Keinen Hunger«, murmelte ich.
    »Das hier ist aber doch - wirklich schön, oder?«, fragte Mama gähnend. Ich seufzte und sah mich um. Ja, einen Wintergarten hat­ten wir in Köln nicht gehabt. Und ja, wahrscheinlich war es ein ex­klusiver Platz zum Frühstücken, auch wenn Mama diese Mahlzeit meistens im Wachkoma zubrachte. Aber Menschen, die morgens geistig anwesend waren, mussten es wohl als schön beurteilen. Es sei denn, sie hatten Heimweh wie ich.
    Die ersten Sonnenstrahlen ließen das dunkle Holz unseres wurm­stichigen Esstisches warm aufleuchten. Papa trat zu uns, trank im Stehen einen Schluck stilles Wasser und wandte blinzelnd die Augen ab.
    »Die Vorhänge sind bald fertig, nur noch ein, zwei Tage«, sagte Mama und strich Papa schlaftrunken über den Arm. »Außerdem hab ich Jalousien bestellt.«
    Ich verkniff mir einen bösartigen Kommentar. Es war schließlich nicht gerade nett, über die Krankheiten anderer Leute zu spotten. Aber Papa und seine Migräne - das war etwas, woran ich mich ein­fach nicht gewöhnen konnte. Und schon gar nicht daran, dass die hellsten Räume im Haus an jedem Schönwettertag rigoros abge­dunkelt wurden. Ich wunderte mich, dass er den Wintergarten nicht gleich abgerissen hatte.
    Papa musterte meinen leeren Teller.
    »Elisa, iss doch was«, ermahnte er mich, bevor Mama ihn daran hindern konnte.
    »Ich habe keinen Hunger«, erwiderte ich bockig. Achselzuckend zog Papa sich in den Flur zurück und pfiff dort vor sich hin. Ich hatte wirklich keinen Hunger. Stattdessen war mir schlecht, vor Nervosität und Aufregung und weil ich nachts um drei in bleierner Stille aufgewacht war und nicht mehr hatte einschlafen können. Es war, als ob das Haus lebte. Überall knackte und knirschte es und gleichzeitig war es draußen so beängstigend ruhig. Nicht ein Auto fuhr durch das Dorf, stundenlang.
    Stattdessen schrie am Waldrand immer wieder ein Vogel - es war ein merkwürdig sehnsüchtiger, gequälter Ruf, der sich in meinen Ohren einnistete und mir die letzte Müdigkeit raubte. Als es däm­merte, begannen die Singvögel ihr unerträglich optimistisches Kon­zert und ich marterte mich mit der Frage, was ich anziehen sollte. Ein sicheres Zeichen, dass ich wieder in der Realität angekommen war.
    Mein abendlicher Ausflug an den Sumpf - bei Tageslicht betrach­tet bestimmt ein lieblicher Teich mit Seerosen und Dotterblumen - kam mir vor wie ein Erlebnis aus fernen Zeiten und meine Vision begann mir sogar peinlich zu werden. Schließlich waren es nur Se­kunden gewesen, in denen ich glaubte, so etwas wie einen finsteren Reiter gesehen zu haben. Und selbst wenn das sogar stimmte - viel- leicht hatte sich jemand auf seinem Reitausflug verspätet und dort hinten kehrtgemacht. Oder so ähnlich. Ich beschloss jedenfalls, die ganze Angelegenheit so schnell wie möglich zu vergessen und mich ernsthaft meinem Klamottenproblem zu widmen.
    Als mein Wecker schließlich um sechs klingelte, war ich allerdings so übermüdet und durcheinander, dass ich nachlässig nach einem engen Wollpulli und meiner Jeans griff. Dazu meine hohen Stiefel mit den Absätzen, ein solides Make-up, ordentlich Mascara, fertig.
    »Ich nehme dich heute mit und setze dich bei der Schule ab. Ist ja ganz in der Nähe. Nach Hause kannst du dann mit dem Bus fah­ren«, rief Papa aus dem Flur.
    »Okay«, antwortete ich erleichtert. Ein Lichtblick.
    In Papas Auto war ich wenigstens ein bisschen zu Hause. Ich schwieg und gab vor, die Landschaft zu betrachten. Doch da gab es nicht viel zu sehen. Eine grüne, undurchsichtige Welt. Bäume über Bäume, dazwischen fette Wiesen mit hüfthohem Gras, keine Wege, keine Häuser, keine Straßen außer diesem schmalen, schlecht as­phaltierten Pfad. Die gesamte Strecke nach Rieddorf fuhren wir an einem dieser unzähligen verschlungenen Bäche entlang, der viel zu viel Wasser führte und sich sumpfig in die Niederungen ausbreitete. Alles war grün und nass und wenig einladend.
    Ich schluckte krampfhaft, um das flaue Gefühl in meinem Magen zu vertreiben. Wie würden sie auf mich reagieren - meine
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