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Splitterherz

Titel: Splitterherz
Autoren: Bettina Belitz
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ein Junge wirklich für mich interessiert, und was passiert? Ich ziehe nach Dunkelhausen. Ins Exil.
    Und nun zwang Papa mich auch noch dazu, mich den anderen Exilanten freundlichst vorzustellen. Ich nahm das Bündel Briefe in meine zittrige Hand und tapste so leise wie möglich die knarzende Treppe hinunter. Aus Mamas und Papas Schlafzimmer ertönte viel zu glückliches Lachen und das Klappen von Kofferscharnieren. »Ich bin dann weg!«, rief ich und schlug die schwere Haustür zu, bevor ich eine Antwort hören konnte. Falls sie mich überhaupt wahr­genommen hatten.
    Es war dunkel. Zu dunkel für meine lichtverwöhnten Augen. Die Straßenlampe leuchtete zwar inzwischen hellgelb, warf aber nur ei­nen matten Kegel auf den nassen Asphalt. Ein feiner Nieselregen benetzte mein Gesicht und kroch kalt in meinen Nacken. Es war totenstill - so still, dass ich glaubte, das Rauschen meines Blutes hören zu können. Der Wind hatte sich gelegt. Kein Blatt, kein Strauch bewegte sich.
    Starr thronte die riesige Eiche neben dem Feldweg, der an unse­rem Garten vorbei bis hinauf zur Kuppe führte. Ihre Äste glänzten feucht im verblassenden Schein der letzten Laterne, bevor pure Finsternis den Weg verschlang. Dieser Baum war mir bei unserer Ankunft sofort aufgefallen und hatte ein beklemmendes Gefühl ausgelöst - Trostlosigkeit vermischt mit Neugierde. Ein dicker Ast stand merkwürdig waagerecht ab und war fast frei von weiteren Gabelungen.
    »Ich möchte nicht wissen, wer daran schon sein Leben lassen musste«, hatte Papa bemerkt, als Mama begeistert die knorrige Rin­de der Eiche berührt und sich an ihren mächtigen Stamm gelehnt hatte - und ich zu fürchten begann, sie würde den Baum umarmen oder gar um ihn herumtanzen. Es war kein gewöhnlicher Baum. Es war eine Gerichtseiche. Man hatte dort Diebe und Mörder gehängt. Heute stand eine Bank darunter, deren morsche Lehne halb abge­rissen im hohen Gras steckte. Gestiftet vom Verschönerungsverein.
    Papa hatte es sich in seiner Euphorie nicht verkneifen können, eine haarsträubende Geschichte zum Besten zu geben - nicht dass ich sie hatte hören wollen. Irgendein dämlicher Priester hatte sich an diesem Ast erhängt, weil er sich in ein Mädchen verliebt und es geschwängert hatte, und trieb fortan als kopfloser Reiter sein Unwe­sen. Das zumindest erzählte man sich im Dorf. Sonst gibt es hier ja auch nichts zu tun, dachte ich zynisch.
    Gut, es war keine allzu schöne Vorstellung, dass an diesem Baum einst Leichen baumelten. Aber das lag immerhin Jahrhunderte zu­rück. Jetzt rasteten hier allenfalls Wanderer. Und finstere Gesellen trieben sich auch nicht herum. Ich sah lediglich zwei Schafe mit schauderhaft schmutzigem, verklumptem Fell auf der Weide neben­an ihr graugrünes Gras kauen.
    Nun hatte ich mich ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt. Ich schlang meinen Strickmantel enger um den Bauch und suchte die passenden Häuser zu den Adressen auf den Kuverts. Alles in nächs­ter Nähe, und sämtliche Häuser sahen aus, als würden alte Men­schen darin wohnen. Ich war umzingelt von Greisen.
    Nur die letzte Adresse fand ich nicht sofort. »Das ist ganz am Ende der Gartenstraße«, hatte Papa noch gesagt, wie ich mich jetzt er­innerte. Was für ein schöner Name für einen so ungepflegten Weg. Die meisten Häuser wirkten verlassen. Nicht nur die Gärten waren zugewuchert, auch die Büsche neben dem Pfad streiften dornig meine Schultern, so weit ragten sie über die Zäune. Ein Wollfaden an meinem Mantel riss, als sich ein besonders vorwitziger Ast darin verhakte. Ich schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Konn­ten die hier nicht mal die Straßen frei halten?
    Da, endlich, die letzte Adresse und ein Hort der Zivilisation. Solar­erhellte eisblaue Schmetterlinge aus dem Verkaufsfernsehen (»Die müssen Sie einfach haben!«) schwebten über den ordentlichen Ra­batten und alle Fenster wurden akkurat von Rüschen und Über­gardinen erstickt. Also auch Greise.
    Eine verknöcherte Hand griff von innen zwischen die Vorhänge. Hastig stopfte ich die Grußkarte durch den Briefschlitz. Wenn ich nicht sofort verschwand, würden sie die Tür öffnen und mich in ein Gespräch verwickeln. Und ich wollte nicht reden.
    Ich zerrte an dem Gartentörchen, das sich hinter mir von allein geschlossen hatte. Meine Hand rutschte ab und schlug gegen den Holzzaun. Schon bewegte sich die Klinke der Haustür langsam nach unten. Ich griff ein weiteres Mal nach dem Törchen und zog fest daran.
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