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Splitterherz

Titel: Splitterherz
Autoren: Bettina Belitz
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schillernden Augen in der Mitte des Raumes hockte und sein knisterndes Fell spielen ließ, sprang lautlos auf die Fensterbank. Ich folgte ihm. Geschmeidig balancierte er über den Dachfirst, hüpfte auf den Giebel der Garage und von dort aus hinunter auf den Zaun und den Feldweg. Es war mir ein Leichtes, es ihm nach­zutun. Ich musste meine Füße nicht einmal aufsetzen. Ich tat es dennoch, weil ich das Kitzeln der moosbewachsenen Ziegel, das verwitterte Holz und die Kühle des taunassen Grases unter meinen bloßen Sohlen genoss. Ein schwarzer, klarer Himmel spannte sich über die Welt. Der Mond stand hoch. Ich konnte die Krater in sei­nem runden Gesicht erkennen und streckte die Arme nach ihm aus. Ich hätte ihn so gerne berührt.
    Leichtfüßig galoppierte der Kater den silbrig erhellten Feldweg
    hinauf, an der wispernden Eiche vorbei bis zu den Apfelbäumen, die ihre uralten Zweige fast bittend den Sternen entgegenreckten. Es roch nach der wilden Süße überreifer Früchte. Ich konnte die Insek­ten und sich windenden Würmer hören, die an dem saftigen Fleisch der Äpfel nagten.
    Louis’ Mähne fiel wellig über seinen geschwungenen Hals. Ich ließ meine Finger über sein ebenholzfarbenes Fell gleiten, während er mich mit seinen großen Augen anschaute und leise schnaubte. Seine geblähten Nüstern witterten Freiheit.
    Colin wandte den Kopf zu mir und glitt lautlos von Louis herab. Die Tiere des Waldes hatten ihn trinken lassen. Seine Augen funkel­ten und glitzerten, als würde schwarzes Feuer in ihnen lodern. Nachtschwärmer umflatterten seine Stirn. Ich klaubte einen Falter aus seinen züngelnden Haaren und setzte ihn mir auf den Hand­rücken. Seine pudrigen Beine klammerten sich schutzsuchend fest. Ich pustete seine Schwingen an, damit er davonflog. Mit einem tie­fen Summen floh er von meiner warmen Haut.
    »Weck mich!«, bat ich Colin. Noch nie hatte meine Stimme so schön geklungen. Ich fand alles schön an mir. Staunend betrachtete ich meine nackten Füße und meine schmalen, zierlichen Knöchel. Ich fühlte meine Stärke und meinen wachen Verstand in jedem Mil­limeter meines Körpers.
    Und trotzdem - das war nicht die Wirklichkeit.
    »Bitte weck mich! Ich möchte mich erinnern können.« Colin rea­gierte nicht. Er nahm meine Arme, küsste meine Fingerspitzen und zog mich fest an sich. Es war, als ob Jahre an uns vorüberzogen, Frühling, Sommer, Herbst und Winter zugleich. Ich spürte die heiße Sonne auf meinem Rücken, Sturm in meinen Haaren und eisige Schneeflocken in meinem Nacken.
    »Leb wohl, Ellie«, sagte Colin, bevor er mich küsste und seine scharfen Fingernägel ganz sacht in meinen Rücken grub. Ich liebte den Schmerz. Ich liebte sogar die Trauer, die mich jetzt schon zu greifen versuchte. Doch noch war Colin hier. Noch konnte sie mir nichts anhaben.
    »Warum weckst du mich nicht?«, fragte ich und legte meine Hän­de auf seine Wangen. Ich musste mir sein Gesicht einprägen, mit allen Sinnen. Für immer.
    »Weil der Abschied zu sehr wehtun würde«, antwortete er und lächelte mich ein letztes Mal an, bevor er sich auf Louis’ Rücken schwang und in die Finsternis ritt.
    Der Trost und die Geborgenheit blieben. Sie trugen mich durch die kalte Nacht zurück in mein leeres, einsames Zimmer. Gelöst schmiegte ich mich in mein Bett und fühlte noch immer Colins Arme um meinen Körper. Sie hielten mich fest bei ihm, bis der Traum zu verblassen begann und der Schlaf mir das Bewusstsein nahm.
    Als ich wieder zu mir kam, ans Fenster lief und nach draußen sah, waren alle Felder, Bäume und Wege von silbergrauem Raureif über­zogen. Der Wald hob sich starr und weiß gegen den mattblauen Morgenhimmel ab.
    Von der höchsten Tanne, ganz hinten am Waldrand, löste sich ein schwarzer Schatten, flog auf unser Haus zu und schrie klagend. Ich sah ihm lange nach, wie er seine Flügel hob und senkte, gleichmäßig und stark, und sich der aufgehenden Sonne näherte.
    Und ich wusste, dass Colin gegangen war.
    Mit einem vorwurfsvollen Miau schälte sich Mister X aus meiner Bettdecke, sprang neben mich aufs Fensterbrett und starrte mich fordernd an. Sofort fiel mir das rote Lederhalsband mit der metalle­nen Hülse in die Augen. Ich öffnete sie und entnahm das zusam­mengerollte Papierchen.
    »Pass gut auf ihn auf, bis wir uns Wiedersehen - in diesem oder ei­nem anderen Leben.
    Du weißt ja - er liebt Fisch.
    Und ich liebe Dich.
    Colin«
    Ich drückte das Briefchen an mein Herz, ging zu meinem
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