Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Splitterherz

Titel: Splitterherz
Autoren: Bettina Belitz
Vom Netzwerk:
»Ich glaube, die Pfleger machen um diese Uhrzeit ihre Runde bei den Patienten, ver­teilen das Frühstück und geben die Tabletten aus. Wir werden einen günstigen Augenblick abpassen, in dem wir ihn unbemerkt in das oberste Stockwerk schleusen können. Denn wie es aussieht, wird dort renoviert. Und heute ist Sonntag. Es werden keine Bauarbeiter da sein.«
    Ich wischte mir notdürftig die Erde aus dem Gesicht, doch sie klebte wie Zement an meiner Haut. Der Duft der Orchideen setzte sich immer aufdringlicher in meiner Nase fest. Aber mein größtes Handicap war mein Bein.
    »Du wirst mich stützen müssen.«
    »Kein Problem«, erwiderte Tillmann. »Und was ist mit ihm?«
    Ich wandte mich dem leblosen Körper hinter mir zu. »Colin?«, fragte ich leise und strich über seine bleiche Wange. Langsam hoben sich die langen, gebogenen Wimpern und er sah mich an -  angewidert von sich selbst und noch immer wütend, aber wach. Er sagte nichts.
    »Ich glaube, er redet nicht, um Kraft zu sparen«, vermutete ich ratlos. Dann blickte ich Colin tief in seine stumpf glänzenden Fie­beraugen. »Aber tragen können wir dich nicht. Und jetzt bitte keine Machtspiele. Ich bin nicht Louis.«
    Ich schob mich an Colin vorbei aus dem Wagen. Wie in Zeitlupe und doch verblüffend geschmeidig richtete er sich auf, stieg aus und trat zu uns. Seine Lider blinzelten kein einziges Mal.
    »Wie kommen wir an der Pforte vorbei?«, fragte Tillmann sach­lich.
    »Kannst du sie irgendwie ablenken? Sie lähmen oder sonst was?«, bat ich Colin und warf einen Blick auf die dürre Frau im Pförtner­häuschen, die uns bereits verwundert entgegenschaute. Colin drehte sich geisterhaft langsam in ihre Richtung und versenkte seine Augen in ihre. Ihr Kopf fiel schlaff zur Seite. Sie schlief. Colin nickte unmerklich.
    Sein eisiger Atem trieb uns nach vorne. Mit zusammengepresstem Kiefer und geballten Fäusten unterdrückte ich einen Aufschrei, als mein Bein gegen die Tür des Aufzugs stieß. Colin lehnte sich starr an die Wand und ließ seine Lider herabsinken. Ob er meditierte, um seinen Ekel zu unterdrücken?
    Ich studierte die Knopfleiste. E, 1,2, 3. Kein vierter Stock. Hatte Papa nicht kürzlich etwas von untragbaren Zuständen erzählt? Dass die Bauarbeiter jeden Morgen, Mittag und Abend lärmend an seinen schwierigsten, kränksten Patienten vorbeistapften, um zur Treppe hinauf zum Dachgeschoss zu gelangen? Ich drückte die Taste mit der 3.
    Der Aufzug setzte sich in Bewegung. Selbst dieser kleine Ruck ließ mich vor Schmerzen schwanken. Tillmann fing mich ab. Die kurze Fahrt nach oben zerrte unruhig an meinem Magen.
    »Kannst du bitte noch mal?«, fragte ich Colin sanft. Schließlich mussten wir irgendwie da reinkommen. Und geschlossene Abtei­lungen hatten unweigerlich verriegelte Türen. Er antwortete nicht. Seine Schweigsamkeit rüttelte an meiner Geduld.
    Die Aufzugstüren öffneten sich schnarrend. Ich stellte mich mit dem Rücken an die kalte Wand neben der dreifach verriegelten Tür und versuchte, das pulsierende Brennen in meinem Bein wegzuat­men. Tillmann sah sich neugierig um. Colin positionierte sich di­rekt vor der Tür, den Blick eisern auf das Schloss gerichtet. Quälen­de Minuten verstrichen, bis sich Schritte näherten und das Schloss rasselte. Colins Arm griff lautlos nach vorne. Er fing den schlaffen Körper des Pflegers auf, bevor er fallen konnte, und legte ihn acht­los auf dem Boden ab. Der Mann schnarchte laut. Colin sackte kurz in sich zusammen, dann verwandelten sich seine Muskeln und Seh­nen wieder in Stahl.
    Trotz meines verletzten Beins dauerte es nur wenige Wimpern­schläge, bis wir das Ende des Korridors erreicht hatten. Hinter uns erhob sich ein wehklagendes Schreien, das einfach nicht leiser wer­den wollte.
    »Ein weiteres Mal schaffe ich es nicht, ohne euch gefährlich zu werden«, drang Colins Stimme in meinen Geist.
    Hab verstanden, sendete ich stumm zurück. Es waren ja nur noch wenige Meter. Wir waren noch keine drei Schritte weit gegangen, als sich der weiß gewandete Hintern eines Pflegers aus der linken Tür am Ende des Ganges schob.
    »Hier herein«, wisperte Tillmann und stieß uns in das Zimmer zu unserer Rechten. Colin folgte uns, schloss die Tür und kroch auf allen vieren die Wand hoch. Dann haftete er sich rücklings an die Zimmerdecke.
    »Cool«, murmelte Tillmann und vergaß für einen Moment, mich zu stützen. Wimmernd ging ich zu Boden.
    »Hallo«, sagte eine mädchenhafte, aber erschreckend
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher