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Splitterherz

Titel: Splitterherz
Autoren: Bettina Belitz
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schweigende Minuten später standen wir uns in dem leeren dunklen Kliniktrakt oberhalb der Geschlos­senen gegenüber.
    »Dort ist er«, sagte Papa und wies auf eine schwere Eisentür. »Fünf Minuten«, fügte er hinzu. »Ich warte hier.«
    Das war mir zwar nicht willkommen, aber mein Instinkt sagte mir, dass ich gut daran tat, ihn in der Nähe zu haben. Warum nur war er meiner Bitte so rasch gefolgt? Das passte einfach nicht zu ihm. Ich humpelte zur Tür, drückte die rostzerfressene Klinke hi­nunter und stieß sie auf.
    »Colin!«
    Ich wollte auf ihn zustürzen, doch sein Blick stoppte mich.
    »Nicht, Ellie, bleib, wo du bist«, rief er warnend. Ich stockte.
    »Warum?«, setzte ich an, doch er musste es mir nicht erklären. Colin saß in der Ecke dieses leeren, nüchternen Zimmers auf einem klapprigen Stuhl, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Noch immer trug er seine zerfetzte Hose und das zerrissene Hemd, doch offen­sichtlich hatte er sich waschen können. Seine Augen glänzten fie­bermatt und waren von dunklen bläulichen Schatten umrandet. Überall im Gesicht zeichneten sich seine Adern violett ab. Hart tra­ten seine Wangenknochen unter der gespannten Haut hervor.
    Er sah krank aus. Und sehr hungrig. Und dann war da noch etwas, was ich nicht wahrhaben wollte, aber auch nicht ignorieren konnte. Es machte mir Angst. Colin machte mir Angst. Jetzt durchlief ein Beben seinen Oberkörper und ein leises Grollen drang aus seiner Kehle. Ruckartig wandte er den Kopf und blickte zum Mond, der

    bleich durch das winzige, vergitterte Fenster schien. Draußen, ganz in der Ferne, hörte ich ein wolfsartiges Jaulen. Colins Hände zogen an den Fesseln. Doch sie waren so fest geschnürt und zusätzlich an das Heizungsrohr geknüpft, dass er sie nicht lösen konnte. Nicht in dieser Verfassung.
    Ich versuchte gar nicht erst, meine Tränen aufzuhalten. Der Schmerz in meiner Kehle war übermächtig und strahlte bis ins Herz aus.
    »Warum hat er dich gefesselt?«, schluchzte ich.
    »Ich wollte es«, sagte Colin mit rauer Stimme. Er sah mich nicht an. »Es ist besser so.«
    Meine Tränen tropften auf den schmutzigen Boden und hinterlie­ßen dunkle, runde Flecken. Es war Vergeudung. Pure, nutzlose Ver­geudung. Trotz Colins Warnung trat ich auf ihn zu, beugte mich zu ihm herunter und hielt ihm meine Wange an den kalten Mund. Meine Krücken polterten zu Boden. Wieder durchlief das Beben seine Brust und seine Zunge leckte gierig über meine Haut. Ich sackte auf meine zitternden Knie.
    Es war nicht wie sonst. Mit jeder Träne, die er aß, wurde Kraft aus meinem Körper gesaugt. Doch ich biss die Zähne zusammen, ver­drängte den rasenden Schmerz in meinem Bein und hielt durch.
    Ich musste weinen, weil ich sonst erstickte, und er hatte Hunger. So einfach war das. Wir halfen uns gegenseitig. Ich konnte schließ­lich nachher nach Hause gehen und die Reste von Mamas Steaks essen. Als mir etwas leichter ums Herz war und ich mich nur noch mit äußerster Kraftanstrengung aufrecht halten konnte, riss Colin stöhnend seinen Kopf weg. Ich griff nach oben, zog mich an seinen Schultern auf seinen Schoß und sank gegen seine Brust. Ich küsste seine nackte Haut. Sie fühlte sich an wie erfroren. Ich ließ meine Lippen nach oben wandern - ja, hier, an seiner Kehle, hatten meine Tränen eine dünne, warme Spur gezogen. Das Rauschen in seinem Körper, das sich eben noch so unregelmäßig und gepresst angehört hatte, wurde ruhiger und rhythmischer.
    Eine kleine Weile warteten wir schweigend ab, bis ich wieder etwas Energie gesammelt hatte und die warme Linie an Colins Kehle sein Brustbein erreicht hatte.
    »Sie ist nicht tot, oder?«, fragte ich, was ich längst wusste. Till­mann hatte mich nachmittags angerufen. Die Spinne bewegte ab und zu ihre Beine, als wolle sie austesten, ob sie sie benutzen konn­te. Colin lachte schnaubend auf. Es klang wie das Fauchen eines ver­letzten Tieres.
    »Sie stirbt einfach nicht. Ich hätte es auch noch weiter versucht, aber ... Ellie, sieh mich bitte an. Ich tu dir nichts, ich schwöre es. Schau mich an.«
    Ich hob meinen Kopf. Es waren immer noch Fieber und Hunger in seinen Augen, doch meine Tränen hatten gewirkt. Ein matter Ab­glanz des früheren Funkelns war zurückgekehrt.
    Er lächelte müde. »Ich hätte weiter gegen sie gekämpft, wenn du nicht aufgetaucht wärest - wahrscheinlich vergeblich. Aber als ich dich gewittert habe, in all den Blüten und den Zweigen, wie du ihr so tapfer und stur
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