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Splitterherz

Titel: Splitterherz
Autoren: Bettina Belitz
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konnte. Seine Augen klam­merten sich an ihm fest, als könne sein schwaches Leuchten den bohrenden Hunger lindern. Ich durfte nicht erwarten, dass er hier­blieb. Er litt.
    »Irgendwo hab ich mal gelesen, dass Liebe bedeutet, den anderen freizulassen. Ich fand das kitschig. Aber es ist wohl wahr, oder?«, sagte ich und der Schmerz in meiner Kehle drohte mich zu ersti­cken.
    Ich nahm sein kaltes Gesicht in die Hände und küsste erst seine Augen, dann seinen Mund. Zögerlich erwiderte er den Kuss. Er spannte sich am ganzen Körper an, um meinem Angebot zu wider­stehen, doch er blieb standhaft. Mein Geist wurde nicht berührt.
    »Louis steht im Stall von Maikes Großvater. Aber, Colin, versprich mir eines: Geh nicht, ohne dich von mir zu verabschieden. Das wür­de ich einfach nicht überstehen.«
    Ich spürte den schwarzen, verschlingenden Sog von Colins Blick, obwohl ich meine Augen niedergeschlagen halte. Sein Atem streifte eisig und heiß zugleich meinen Nacken. Ein betörender Duft kitzel­te meine Nase. Meine Lider wurden schwer.
    »Ellie, wenn ich jetzt das mit dir tun würde, wonach alles in mir schreit - du müsstest mich am ganzen Körper fesseln, um auch nur einen Bruchteil deiner Seele zu retten. Ich will dich.«
    »Colin ...«
    Ihn nur einmal noch küssen ... nur einmal... Doch irgendetwas zog und rüttelte an meiner Kraft und meine Gedanken wurden schwammig. Ich rutschte blind nach unten.
    »Geh!«, rief Colin. »Schnell!«
    Ich schaffte es gerade noch, meinen Muskeln den Befehl zu er­teilen, mich zur Tür zu bringen, obwohl die Schmerzen in meinem Bein mir die Tränen in die Augen trieben. Papa hob mich mühelos auf seinen Arm und jagte mit mir die Treppen hinunter ins Freie. Bevor ich Colins Fenster suchen konnte, um zu ihm nach oben zu blicken, hatte Papa mich in den Wagen gezogen. Erst als wir die Klinik weit hinter uns gelassen hatten, löste sich die Anspannung in meinem verkrampften Rücken und meine Zahne hörten auf, klappernd aufeinanderzuschlagen.
    »Das war knapp«, knurrte Papa und tätschelte mir kurz das ge­sunde Knie. Ich nickte nur. Ja, es war verdammt knapp gewesen. Und doch wollte ich schon jetzt wieder zu ihm zurück.
    Zu Hause saß Mama immer noch vor ihren kalt gewordenen Steaks. Die Salatblätter ertranken schlaff in ihrem Dressing.
    »So. Das war das letzte Mal, dass ich in einem stillen Haus tatenlos warte und mir Sorgen mache«, sagte sie mit sturem Blick. Als Papa ihr über den Rücken strich und sie ihn anlächelte, wurde mir schlag­artig bewusst, wie es um mich und Colin stand. Er würde wieder fliehen. Und sobald Tessa bei Kräften war, würde sie ihm entweder folgen oder zurück nach Italien gehen und lauern. Jahrelang. Jahr­zehntelang, wenn es sein musste. Sie würde lauern, bis Colin wieder etwas Schönes empfand und dabei in Gefahr geriet, sie zu vergessen. Sein Schicksal war, an Tessa zu denken - sosehr er sie auch ver­abscheute. Nicht mir durften seine Gedanken gelten.
    Die traute Zweisamkeit meiner Eltern brannte wie ätzende Säure in meinem Herzen. Ich musste allein sein. Tränenblind humpelte ich die Treppe hinauf in mein Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Ich nahm Colins graue Kapuzenjacke, die ich ihm nie zurück­gegeben hatte, zog sie mir an und rollte mich auf meinem Bett zu­sammen. Der weiche, ausgewaschene Stoff duftete immer noch schwach nach Colin - nach Pferd, Kaminrauch, Sommerwald und seiner reinen, seidigen Haut.
    Obwohl es keinen Grund dazu gab, fühlte ich mich mit einem Mal geborgen und getröstet. Wärme umschmeichelte mich und meine wirbelnden Gedanken kamen zur Ruhe. Es gab nichts mehr zu grübeln, zu bedauern oder zu fürchten, sondern nur noch eines zu tun: tief und fest zu schlafen.
    Ein Lächeln entspannte mein Gesicht, als ich die Augen schloss und mein Körper langsam vergaß zu sein und sich hinabsinken ließ, dorthin, wo das Böse und die Angst keinen Zutritt hatten.
     

    Morgenröte
     
    »Öffne deine Augen. Jetzt«, flüsterte es in meinem Geist. Ich ge­horchte sofort.
    Mein Zimmer war in mildes samtgraues Mondlicht getaucht. Wie ein Schleier legte es sich auf meine Haut. Ich setzte mich auf und betrachtete verwundert meine Arme. Jedes einzelne feine Härchen schimmerte und glänzte. Mein Bein war unversehrt.
    »Komm nach draußen. Komm zu mir«, erklang das Flüstern er­neut.
    Ich musste mich nur ganz leicht mit meinen nackten Zehen vom Boden abstoßen, um die Schwerkraft zu überlisten. Mister X, der mit gelb
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