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Lauf, Jane, Lauf!

Titel: Lauf, Jane, Lauf!
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    An einem Nachmittag im Frühsommer ging Jane Whittaker zum Einkaufen und vergaß, wer sie war.
    Sie stand an der Ecke Cambridge und Bowdoin Street mitten in Boston und wurde sich plötzlich ohne jede Vorwarnung bewußt, daß sie zwar genau wußte, wo sie war, aber keine Ahnung hatte, wer sie war. Sie wußte, daß sie auf dem Weg ins Lebensmittelgeschäft war, um Milch und Eier zu besorgen. Die brauchte sie für den Schokoladenkuchen, den sie backen wollte; warum sie ihn hatte backen wollen und für wen , konnte sie aber nicht sagen. Sie wußte genau, wieviel Gramm Schokoladenpulver das Rezept vorschrieb, aber ihr eigener Name fiel ihr nicht mehr ein. Sie konnte sich auch nicht erinnern, ob sie verheiratet oder alleinstehend, verwitwet oder geschieden, kinderlos oder Mutter von Zwillingen war. Sie wußte weder ihre Größe noch ihr Gewicht noch ihre Augenfarbe. Sie wußte ihren Geburtstag nicht und nicht ihr Alter. Sie konnte die Farben der Blätter an den Bäumen benennen, aber sie konnte sich nicht erinnern, ob sie blond oder brünett war. Sie wußte, wohin sie wollte, aber sie hatte keine Ahnung, woher sie kam.
    Der Verkehrsstrom in der Bowdoin Street floß langsamer und kam zum Stillstand. Rechts und links lösten sich Menschen von ihrer Seite, wie von einem Magneten zur anderen Straßenseite hinübergezogen. Sie allein stand wie festgewachsen, nicht imstande, einen Schritt zu tun, kaum fähig zu atmen. Vorsichtig, bewußt langsam, den Kopf im Kragen ihres Trenchcoats versteckt, blickte sie verstohlen erst über die eine, dann über die andere Schulter. Passanten schossen an ihr vorbei, als sei sie gar nicht vorhanden, Männer und Frauen, deren Gesichter keinerlei
äußere Zeichen von Selbstzweifel zeigten, deren Schritt kein Zögern verriet. Sie allein stand völlig still, nicht willens - nicht fähig -, sich zu bewegen. Sie nahm Geräusche wahr - Motorengebrumm, Hupen, das Gelächter von Menschen, den Klang ihrer Schritte, der abrupt abbrach, als die Autoschlangen sich wieder in Bewegung setzten.
    Sie hörte das giftige Flüstern einer Frau - »diese kleine Nutte«, zischte sie - und glaubte einen Moment lang, die Frau spräche von ihr. Aber sie war offenkundig im Gespräch mit ihrer Begleiterin, und keine der beiden schien sich auch nur im geringsten bewußt, daß sie neben ihnen stand. War sie unsichtbar?
    Eine irrwitzige Sekunde lang dachte sie, sie wäre vielleicht tot, so wie in einer dieser alten Twilight Zone Episoden, in der eine Frau sich mutterseelenallein irgendwo auf einer nächtlichen Straße wiederfindet und verzweifelt bei ihren Eltern anruft, nur um von ihnen hören zu müssen, daß ihre Tochter bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei und was ihr überhaupt einfiele, sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf zu reißen? Aber dann bestätigte die Frau, deren Mund sich eben noch geringschätzig um das Wort >Nutte< gekräuselt hatte, ihre Existenz mit einem freundlichen Lächeln, wandte sich wieder ihrer Begleiterin zu und ging mit ihr über die Straße.
    Tot war sie also offensichtlich nicht. Und unsichtbar auch nicht. Wieso konnte sie sich an etwas so Blödsinniges wie eine Szene aus Twilight Zone erinnern, aber nicht an ihren Namen?
    Neue Menschen sammelten sich um sie und warteten, mit den Schuhspitzen aufs Pflaster trommelnd, ungeduldig darauf, die Straße überqueren zu können. Wer auch immer sie war, sie war nicht in Begleitung. Es war niemand da, bereit, ihren Arm zu nehmen; niemand, der besorgt von der anderen Straßenseite herüberspähte und sich wunderte, wieso sie zurückgeblieben war. Sie war allein, und sie wußte nicht, wer sie war.
    »Bleib ruhig«, flüsterte sie sich zu und suchte im Klang ihrer
Stimme nach einem Fingerzeig, aber selbst die Stimme war ihr fremd. Sie verriet nichts über Alter oder Personenstand, ihr Akzent war nichtssagend, bemerkenswert allenfalls der Unterton der Panik. Sie hob eine Hand zum Mund und sprach hinein, um nicht unnötig aufzufallen. »Keine Panik. In ein paar Minuten ist alles wieder klar.« War es eine Gewohnheit von ihr, mit sich selbst zu sprechen? »Alles schön der Reihe nach«, fuhr sie fort und fragte sich, was das bedeuten sollte. Wie sollte sie der Reihe nach vorgehen, wenn sie völlig im dunkeln tappte? »Nein, das stimmt nicht«, korrigierte sie sich. »Einiges weißt du. Du weißt sogar eine ganze Menge. Überleg mal«, ermahnte sie sich lauter und sah sich sofort hastig um, aus Angst, jemand könnte sie gehört haben.
    Eine Gruppe
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