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Splitterherz

Titel: Splitterherz
Autoren: Bettina Belitz
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Das Scharnier löste sich.
    »He, junges Fräulein!«, ertönte eine heisere, unverkennbar alte Männerstimme hinter mir. Ich tat, als habe ich nichts gehört, und trat die Flucht an. Gott, war das albern. Ich floh vor den Nachbarn, die soeben mit liebreizenden Grußkarten der Familie Sturm ver­sorgt worden waren. Mir war die Hitze ins Gesicht gestiegen und mein Herz schlug hart und lebendig unter dem feuchten Stoff mei­nes Mantels, als ich die Straße entlangrannte, bis sie eine Biegung nahm und in einen unbefestigten Waldweg mündete. Das Dorf lag hinter mir.
    Doch ich fürchtete, der Greis würde neben seinen Solarschmet­terlingen geduldig warten, bis ich meinen Irrtum erkannt hatte, um mich dann in sein gardinenverhangenes Reich zu entführen und mir Kuchen oder Tee aufzuzwingen. Ich musste Zeit schinden.
    Ich schloss die Augen, lehnte mich an einen Baum und ließ den Nieselregen auf mein erhitztes Gesicht perlen. Ein unverhofft ver­trautes Geräusch holte mich schlagartig in die Gegenwart zurück. Irritiert sah ich an mir herunter. Meine Wangen trieften vor Nässe und mein Mantel hing schlaff und nach Schaf müffelnd um meine Schultern. Den konnte ich in die Tonne kloppen. Wie lange hatte ich hier gestanden?
    Jetzt hörte ich es wieder - ein leises, beständiges Gluckern und Schmatzen und dazwischen jenes Quaken und Knottern, das mich und Paul Frühling für Frühling auf die Straße getrieben hatte, da­mals bei Oma im Odenwald. Kröten. Natürlich. Es waren Kröten, die einen Platz zum Laichen suchten und sich gegenseitig auf dem Rücken trugen. Bewaffnet mit Eimern waren wir losgezogen, um die Kröten vor den viel zu schnell fahrenden Autos zu retten, und waren zu Tränen enttäuscht, wenn wir keiner einzigen begegneten. Doch manchmal fanden wir sic dutzendweise und pirschten immer und immer wieder die Straße auf und ab, während Oma sorgenvoll auf uns wartete.
    Seitdem hatte ich keine Kröte mehr gesehen, geschweige denn berührt. Obwohl ich Letzteres lieber meinem Bruder überlassen hatte, der sich grundsätzlich brennend für sämtliche schleimigen Objekte dieses Planeten interessierte.
    Hier mussten Tausende von Kröten wandern oder laichen. Ihr Gesang schwoll an und verebbte wieder. Ich richtete meine Augen in die Dunkelheit, bis sie fast zu tränen begannen, und tatsächlich konnte ich nach einigen Minuten meine Umgebung schemenhaft erkennen. Unser Feuchtbiotop auf dem Schulhof in Köln war ein Witz gegen das, was ich hier erahnen konnte - eine weite, lang ge­streckte Sumpflandschaft. In einem verschlungenen Muster durch­brach meterhohes Schilf das schwarz glitzernde Wasser. Ehe ich mich versah, hatte ich mich darauf zubewegt. Der Boden unter mir gab schmatzend nach und Schlamm saugte sich an meinen Sohlen fest.
    Nicht weitergehen, befahl mir mein Gehirn. Du machst dich schmutzig. Es ist spät am Abend. Es ist kalt. Du holst dir den Tod.
    Weitergehen, sagte mein Gefühl. Schau dir eine Kröte an. Irgend­wie glaubte ich, dass mich der Anblick einer Kröte trösten würde. Doch ich sah keine. Sie sangen nach wie vor ihr unmusikalisches Lied für mich, aber zwischen dem Schilf und den faulenden Baum­stümpfen konnte ich nur schillernde Bläschen und wabernde Al­gengeflechte ausmachen.
    Doch da - etwas flirrte über das zähe Wasser, bläulich und zit­ternd, dann verharrte es und erlosch. Erlosch? Eines wusste ich: Kröten hüpften träge, nicht schnell und zitternd. Und schon gar nicht schimmerten sie bläulich. Vor allem aber erloschen sie nicht.
    Wollte mir da jemand einen Schrecken einjagen? War das etwa ein beliebter Dorfbrauch - zugezogene Großstädter das Fürchten leh­ren? Vielleicht steckten ja sogar Mama und Papa im Dickicht und freuten sich diebisch über die Finte mit den Begrüßungskarten?
    Da war noch eines - ein bebendes blaues Flämmchen, das mit leisem Zischen die Wasseroberfläche erhellte und sofort wieder in die Schwärze der Nacht abtauchte. Okay, ganz ruhig, mahnte ich mich, obwohl es direkt neben mir, beunruhigend nah, laut schmatz­te. Du drehst dich jetzt um, verschwindest von hier und kehrst so schnell wie möglich nach Hause zurück. Ich hob testweise meinen linken Fuß an - gut, ich konnte ihn noch mühelos aus dem Schlamm ziehen. Ich war also noch nicht im Begriff, vom Sumpf verschlun­gen zu werden. Es war ja auch ein mitteldeutsches Biotop und kein schottisches Hochmoor. Trotzdem konnte ich meinen Blick kaum vom Wasser abwenden. Und da, wieder flackerte es
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