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Die unsichtbare Handschrift

Die unsichtbare Handschrift

Titel: Die unsichtbare Handschrift
Autoren: Lena Johannson
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    Köln im Januar 2011  – Christa Bauer
    D ie graue Oberfläche des Wassers kräuselte sich, plötzlich ein Schatten, kaum wahrnehmbar zuerst, dann immer deutlicher zu erkennen. Schließlich tauchte ein Kopf auf. Sofort war einer der drei Männer, die das Tauchteam bildeten, mit einer Plastikkiste zur Stelle, die einmal dem Transport frischer Brote gedient hatte. Zwei Arme, in den stramm sitzenden Ärmeln eines dunkelgrauen Neoprenanzugs steckend, die Hände in unförmigen Handschuhen, reichten eine schwarze Masse nach oben. Der Mann mit der Kiste nahm den Klumpen entgegen und ließ ihn in diese gleiten. Augenblicklich quoll schmutziges Wasser durch die unzähligen Löcher der gitterartigen Kistenwände.
    Restauratorin Christa Bauer war aus dem Zelt getreten, um eine kurze Pause zu machen. Seit fünf Stunden hatte sie ununterbrochen Papierfetzen, ganze Seiten oder auch mal, wenn sie viel Glück hatte, einen kompletten Ordner mit Hilfe einer Handdusche gründlich gespült und dann in Folie verpackt. Ihre Finger waren eiskalt in den gelben Gummihandschuhen, und in ihren Schläfen pochte es. Der blaue, blank polierte Bauhelm drückte auf ihre Ohren und verstärkte die Kopfschmerzen. Sie hatte weder gegessen noch getrunken und verspürte den Drang, sich eine Zigarette anzuzünden. Doch die würde sie sich natürlich verkneifen, denn sie hatte wenig Lust, wieder mit dem Laster anzufangen, das sie vor genau zwei Jahren und einhundertzweiundsechzig Tagen nach einem letzten tiefen Zug aufgegeben hatte. Den dritten Tag ging das nun schon so. Sie war erschöpft. Trotzdem spürte sie, als sie den Taucher jetzt mit seiner Beute aufsteigen sah, schon wieder das vertraute Kribbeln, das sie seit ihrer Ankunft in Köln begleitete. Es wäre vernünftig, sich einen heißen Tee zu holen. Stattdessen ging sie dem Mann entgegen, der dem Kollegen im Wasser die schlammige Fracht abgenommen hatte, und brachte die Kiste in das Zelt.
    Noch war nicht zu erkennen, ob sich zwischen Modder und Dreck ein kleiner Schatz befand oder ob sie es nur mit einer Steuerakte aus dem beginnenden 20 . Jahrhundert zu tun bekäme. Für das Kölner Stadtarchiv war jeder Fetzen der einst dreißig Regalkilometer Material von Bedeutung, das war ihr klar. Doch ihr Herz schlug nun einmal für Pergamente aus dem Mittelalter, sie waren ihr Steckenpferd. Alles andere war Pflicht, ein Pergament wäre die Kür.
    Das Zelt stand direkt in der Baugrube. Hundert Helfer waren rund um die Uhr im Einsatz, um zu retten, was noch zu retten war. Sie arbeiteten in drei Schichten, so dass wohl etwas über dreißig Menschen gleichzeitig spülten, wischten und verpackten. Unter ihnen waren Archivare und Restauratoren, fachkundige Kollegen also, die ihren Urlaub opferten. Es gab aber auch Ein-Euro-Jobber, was Christa zunächst skeptisch zur Kenntnis genommen hatte. Wenn man nichts um die Bedeutung eines winzigen Stückchen Papiers wusste, wenn man vielleicht nicht einmal erkannte, dass es sich um ein Fragment eines Dokuments oder Buchdeckels handelte, wie sollte man es dann sichern? Doch Christa hatte die Laien offenbar unterschätzt. Jeder schien an diesem Ort das Gewicht und den Wert dessen zu spüren, was seit dem Einsturz des Stadtarchivs im März vor beinahe zwei Jahren bereits geborgen worden war und was noch unter dem Grundwasser auf seine Bergung wartete. Mit Feuereifer und Engelsgeduld harrte jeder an dem provisorischen Arbeitsplatz aus, reinigte und sicherte jedes Fitzelchen. Anders war es nicht zu erklären, dass in den vergangenen zweiundzwanzig Monaten geschätzte neunzig Prozent der Archivalien gefunden und zur Restaurierung auf andere Archive verteilt worden waren.
     
    Nach weiteren drei Stunden, in denen sie nichts Spektakuläres entdeckt, in denen sie dem fließenden Wasser zugesehen hatte, wie es Sand und kleine Steine mit sich nahm, räumte Christa das Feld für die nächste Schicht. Die Wechsel erfolgten pünktlich, so etwas wie Überstunden gab es nicht, denn es stand nur eine feste Anzahl an Arbeitsplätzen zur Verfügung. Selbst wenn hier hundert Helfer gleichzeitig hätten spülen können, wäre es nicht klug, länger als acht Stunden in der Kälte mit Wasser und Papier zu hantieren. Die Aufgabe erforderte höchste Konzentration, und die war nach acht Stunden eben aufgebraucht.
    Sie trat aus dem Zelt, warf einen Blick auf den kleinen Bagger, der nach Anweisung der Taucher ebenfalls verschüttete Kostbarkeiten aus der Tiefe holen sollte, und wendete
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