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Die unsichtbare Handschrift

Die unsichtbare Handschrift

Titel: Die unsichtbare Handschrift
Autoren: Lena Johannson
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ist.«
    »Ich beschäftige mich viel mit dem Mittelalter, beruflich und privat. Wenn ich sehe, was Frauen damals alles nicht konnten oder durften, welche Hintertürchen sie nutzen mussten, um überhaupt ans Ziel zu kommen, dann wird mir immer bewusst, wie gut wir es heute haben. Ich sehe gar nicht ein, mir die von Generationen erkämpften Vorzüge aus falscher Scham entgehen zu lassen.«
    »Das leuchtet ein.«
    »Also dann, bis morgen.« Sie streckte ihm die Hand hin.
    Er nahm sie und drückte sie kräftig. »Bis morgen. Gute Nacht.«
     
    Am nächsten Morgen verschlief Christa. Sie hatte von der Bergungsgrube geträumt, war selbst mit Ulrich unter Wasser. In ihrem Traum hatte es ausgesehen, als wären sie durch das Lübecker Archiv getaucht, das geflutet worden war und in dem die Regale umgestürzt quer durcheinanderlagen. Ulrich schwamm unter einem diagonal angelehnten hohen Regal hindurch, blieb mit der Rettungsleine hängen und strampelte um sein Leben. Christa hatte versucht ihm zu helfen, doch er schlug und trat so heftig um sich, dass sie ihm nicht nahe genug kommen konnte. Seine Leine verhedderte sich dabei immer mehr. Mittelalterliche Pergamente trieben an ihr vorbei, die sie greifen wollte. Doch sie musste sich um den Taucher kümmern, der plötzlich nicht mehr Ulrich, sondern ihr Bruder war und dessen Gesicht sich allmählich blau verfärbte. Sie war mit klopfendem Herzen aufgewacht und hatte einige Zeit gebraucht, bis sie wieder hatte einschlafen können. Als um sechs Uhr ihr Wecker gepiept hatte, hatte sie ihn ausgeschaltet und war gleich wieder fest eingeschlafen. Glücklicherweise hatte etwa zwanzig Minuten später jemand unten auf der Straße mehrfach gehupt. Sie hatte eilig geduscht, die kurzen braunen Haare nur rasch aus dem Gesicht gekämmt und trocknen lassen, während sie sich angezogen hatte und in den Frühstücksraum gestürmt war. Dort kippte sie eine Tasse Kaffee hinunter und schmierte sich nebenbei ein Brötchen, das sie auf dem Weg zur Severinstraße verzehrte.
    An der Baustelle angekommen, war ihre rechte Hand, mit der sie ihr Frühstück gehalten hatte, steif vor Kälte. Ihre Laune war im Keller. Sie konnte es nicht ausstehen, schon am frühen Morgen hetzen zu müssen. Womöglich hat Ulrich recht, dachte sie missmutig, als sie ihren Helm aufstülpte. Womöglich stand der Aufwand wirklich in keinem Verhältnis zu dem, was noch im Krater zu entdecken war.
    Den ganzen Vormittag musste sie mit ihrer Müdigkeit kämpfen und hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Ausnahmsweise machte sie mittags eine Pause. Zum einen würden ihr eine starke Tasse Kaffee und etwas Ruhe guttun, zum anderen wollte sie sich das Spektakel nicht entgehen lassen, das sich an dem Wasserbecken abspielte. Dicke Taue waren an dem Trümmerstück befestigt worden, von dem Ulrich gesprochen hatte. Ein Kran zog das riesige Gebilde, ein Eckstück von einer Hauswand, nun millimeterweise aus dem Krater. Männer mit gelben Bauhelmen und grellen Warnwesten liefen um die Grube herum, bückten sich, um besser sehen zu können, und riefen Kommandos. Es gab Beifall, als der steinige Koloss, von dem Matsch und Wasser tropften, neben dem Becken auf einem Sandhaufen abgelegt wurde. Der Sand gab leicht nach, rutschte ein Stück, kleine Steine kullerten wie aufgescheuchte Insekten den Hang abwärts, einige sprangen mit leisem Platschen ins Wasser. Dann bewegte sich nichts mehr.
    Christa spürte, wie sich ihre Laune besserte. Sie winkte Ulrich zu, der in voller Montur am Rand stand und das Schauspiel ebenfalls verfolgt hatte, und zeigte ihm den hochgestreckten Daumen. Sie wusste, dass der Bagger nun zum Einsatz kommen und große Mengen an Material an die Oberfläche befördern würde. Es war also höchste Zeit, wieder an die Arbeit zu gehen.
    Einen Ordner nach dem anderen spülte sie sorgfältig ab, löste die Seiten so gut es ging voneinander, um so viel Dreck wie möglich vorsichtig zu entfernen. Es gab kaum eine Gelegenheit, einen Blick auf die Schrift zu werfen, um eine Idee davon zu bekommen, was man gerade geborgen hatte. Sehr alt schien das Papier nicht zu sein, und die Satzteile, die ihr ab und zu ins Auge sprangen, versprachen auch keine sonderliche Attraktion. Irgendwelche Erbschaftsangelegenheiten vermutlich. So etwas hatte die Menschen vor hundert Jahren ebenso beschäftigt wie vor zwanzig Jahren oder heute. Schon war ihr Korb wieder leer. Sie sah auf die Uhr. Noch knapp eine Stunde bis zum Schichtwechsel. Sie schnappte sich den
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