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Die unsichtbare Handschrift

Die unsichtbare Handschrift

Titel: Die unsichtbare Handschrift
Autoren: Lena Johannson
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Behälter und ging noch einmal den Weg hinunter zum Bagger. Sie musste einen Augenblick warten, dann tauchte die metallene Wanne, die sie an ein aufgesperrtes Maul erinnerte, an der Wasseroberfläche auf. Die dreckige Brühe lief in Strömen an allen Seiten hinaus, während die Schaufel über den Boden gelenkt und abgesetzt wurde. Jetzt konnte Christa ihren Korb mit neuer Fracht füllen. Hinter ihr standen schon drei weitere Helfer, die darauf warteten, sich Nachschub zu holen. Es tropfte auf ihre Hose und ihre Gummistiefel, als sie die wenigen Schritte zum Zelt lief. Wie immer versuchte sie schon jetzt etwas zu erkennen. Doch wie jedes Mal musste sie aufgeben, weil der Schlamm zu dunkel und zu dicht auf allem lag, als dass man auch nur erahnen konnte, ob es sich um einen Ordner, ein einziges Blatt oder gar ein Dokument mit Siegeln handelte. Routiniert hievte sie den Korb auf den Gitterrost, um den gesamten Inhalt zunächst vom gröbsten Dreck befreien zu können. Dann griff sie nach der ersten Akte. Abbrausen, in die Folie geben und beiseitelegen. Schon war das nächste Stück an der Reihe. Der gleiche Ablauf. Sie spürte, wie ihre Gedanken nicht mehr bei der Sache waren, sondern sich auf den Weg nach Lübeck machten. Sie überlegte, welche Unterlagen ihr noch für die Veranstaltung in der nächsten Woche fehlten. Sie würde sich sputen müssen, wenn sie zu Hause war, um alles rechtzeitig zusammenzubekommen.
    Wieder griff sie in den Korb und erstarrte in der Bewegung. Zwischen den papiernen Akten, die kaum älter als hundert Jahre sein mochten, lag ein einzelnes Blatt. Ein Pergament. Wie war das in dieses Regal geraten? Es war undenkbar, dass jemand das kostbare Stück einfach falsch abgelegt hatte. Nein, die Wucht, die bei dem Zusammensturz des Archivs so viel Zerstörung und für zwei Menschen den Tod gebracht hatte, musste verantwortlich dafür sein, dass der Bogen aus seinem Aufbewahrungskarton gerissen und zwischen diese Akten geschleudert worden war.
    Ihr Herz schlug einen Takt schneller. Der Tag hatte so unerfreulich angefangen und brachte ihr anscheinend doch noch den besten Moment der ganzen Woche. Sie nahm behutsam eine Ecke mit dem Gummihandschuh, zog das Blatt zu sich herüber und spülte es Stück für Stück ab. Ihr war durchaus bewusst, dass jeder angewiesen war, nur die besprochenen Handgriffe zu erledigen und sich nicht länger mit einem einzelnen Fund aufzuhalten. Sie würden nicht vorankommen, wenn jeder seine private Neugier befriedigte. Trotzdem konnte sie nicht widerstehen, einen Blick auf die Schrift zu werfen. Die Tinte hatte ziemlich gelitten, viele Buchstaben waren nahezu abgeschliffen, es gab ein großes Loch, und eine Ecke fehlte.
    Christa atmete tief durch. Ein Wort sprang ihr geradezu ins Auge, eine Buchstabenkombination, die ihr nur zu vertraut war. Kein Zweifel, da stand mit Tinte auf das Pergament gemalt das mittelalterliche Wort für Lübeck. Und es war von Betrug die Rede, von einem großen, ungeheuerlichen Betrug.

[home]
    Selburg in Semgallen, Oberlettland im Jahre 1224  – Heilwig von der Lippe
    H eilwig von der Lippe eilte mit rauschenden Röcken durch den langen Gang des Bischofspalasts. Sie hatte sich nicht einmal umgezogen, sondern darauf bestanden, dass der Wagen sie direkt und ohne weitere Rast zum Palast brachte. Jetzt trug sie noch immer ihr Reisekleid, das ganz staubig war von den schlechten Straßen, auf denen sie hatte aussteigen müssen, wenn die Pferde zwischendurch getränkt oder getauscht worden waren. Es war ihr gleich. Sie wollte nur ihren Großvater sehen. Der Bischof von Salonien lag im Sterben, und sie wollte ihn noch einmal lebend zu Gesicht bekommen. Sie wünschte sich von ganzem Herzen, er möge seine Hand auf ihren Bauch legen und das Kind segnen, das sie unter dem Herzen trug.
    Sie fröstelte. Es war kalt in dem Gemäuer. Dabei wollte draußen bereits der Frühling Einzug halten. Der Schreiber, ein hochgewachsener schlanker Mann mit grauem Haar und ein Freund ihres Großvaters, schritt vor ihr her auf die Privatgemächer des Bischofs zu. Es gehörte gewiss nicht zu seinen Aufgaben, die Enkelin des Kirchenmannes am Hauptportal zu begrüßen und sie durch den Palast bis hierher zu führen, doch hatte er es sich nicht nehmen lassen. Für ihn gab es in diesen Zeiten nichts anderes zu tun. Er wusste genau, dass seine Tage im Bischofspalast im gleichen Maße gezählt waren wie die seines Herrn, bis dieser seinem Schöpfer würde gegenübertreten müssen. Es
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