Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Du denkst, du weißt, wer ich bin

Du denkst, du weißt, wer ich bin

Titel: Du denkst, du weißt, wer ich bin
Autoren: E Bailey
Vom Netzwerk:
EINS
    Wir wussten zwei Dinge über Miranda Vaile, bevor sie an unsere Schule kam. Erstens, ihre Eltern waren tot. Und zweitens? Sie waren tot, weil Miranda sie umgebracht hatte.
    Als sich dieses Gerücht anfangs verbreitete, waren alle total aufgeregt, und es hieß, das sei doch absolut widerlich, dass so jemand hierher kommen dürfe und sich, du weißt schon,unter unsere netten,in aller Regel blutrauschfreien Typen mischen konnte.
    Ehrlich gesagt war aber nicht jeder dieser Meinung. Ich zum Beispiel konnte es kaum erwarten, sie persönlich kennenzulernen. Denn – wie ich dann auch meiner besten Freundin Ami erklärte – welcher Wonk würde sich nicht darum reißen, jemanden zu treffen, der auch nur halb so interessant wäre? Natürlich bewies das mal wieder, dass auch ich nicht so wirklich an unsere Schule gehörte.
    Eines Nachts wachte mein kleiner Bruder Toby schreiend auf. Wochenlang hatte er mit der Dunkelheit keine Probleme mehr gehabt – umso schlimmer war es jetzt. Ich war so blöd gewesen, zu glauben, dass Toby sich jetzt endlich damit abgefunden hatte, dass Dad abgehauen war. Ich dachte, diese Albträume wären jetzt ein für alle Mal vorbei. Nach dem Schreien weinte er nur noch. Er weinte wie ein kleines Baby. Ich saß neben ihm und ließ mich immer tiefer mit in seine Trauer sinken. Ich hatte Angst, ich käme nie wieder hoch.
    Mum erschien kurz nach mir in Tobys Kinderzimmer, das Flurlicht beleuchtete sie von hinten. Sie stand da in ihrem ausgebeulten T-Shirt und sah Toby ähnlicher als sonst. Die beiden waren so klein und zart und hatten diese großen, graublauen Augen und das feine, helle Haar, das immer von ganz alleine glatt sitzt, selbst wenn man mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen wird.
    Ich bin das komplette Gegenteil. Früher hat es mich verrückt gemacht, dass ich niemandem in meiner Familie auch nur im Entferntesten ähnlich sehe, und ich habe alle Fotos durchgesehen und nach Gemeinsamkeiten gesucht. Die Nase, die Ohren, die Ausformung der Kieferpartie. Irgendetwas – Hauptsache, eine Ähnlichkeit. Aber nie habe ich etwas gefunden. Schließlich habe ich aufgegeben.
    »Alles in Ordnung«, sagte ich zu Mum. »Geh wieder ins Bett. Ich kann ihn immer gut allein beruhigen.« Und das stimmte. Aber es gab noch einen anderen Grund dafür, dass ich noch eine Weile länger bleiben wollte. Es war meine Pflicht. Es war meine Schuld, dass Toby überhaupt in diesem Zustand war.
    Ich kuschelte mich ganz dicht an ihn, so dicht wie zwei Erbsen in einer Schote. Schließlich schlief er ein. Natürlich war nicht daran zu denken, dass mir das auch gelingen würde – ich war viel zu überdreht. Also lag ich da und starrte das Modell des Sonnensystems an, das er in der zweiten Klasse gebastelt hatte. Ich wachte die Nacht durch und dachte an all die Dinge, die passiert waren.
    An den nächsten Morgen erinnere ich mich überhaupt nicht. Nicht daran, dass ich geduscht oder gefrühstückt habe, nicht daran, ob ich meine Medizin genommen habe – nichts von all den Dingen, die ja eigentlich stattgefunden haben müssen, weil sie jeden Morgen stattfinden, ist mir in Erinnerung geblieben. Man tat eine Sache , man tat danach eine andere Sache. Eigentlich sollte ich mir zu jeder einzelnen kleinen Bewältigung gratulieren. Toll, wie du es aus dem Schlafanzug geschafft hast! Und den ganzen Toast aufgegessen? Wahnsinnsleistung!
    »Babyschrittchen« nennt man diese Strategie. Wobei natürlich vergessen wird, dass Babys die halbe Zeit über ihre eigenen Beine stolpern und auf die Fresse fallen.
    Woran ich mich aber doch erinnere, ist diese Welle der Erleichterung, als ich in der Schule ankam und Ami auf mich wartete. Meine Ami, der ich tatsächlich glich, obwohl wir nicht die Spur miteinander verwandt waren. Wir hatten dieselben dunklen Augen. Dieselben extrem langen Wimpern – Kamelwimpern hat Dad sie immer genannt. Dasselbe kurze, wuschelige dunkle Haar, nur, dass ihres immer aussah, als müsste es wuschelig sein und meins, als hätte ich komisch drauf geschlafen. Natürlich gab es da auch Unterschiede, klar. Ihre Haut war makellos, und ihre Schuluniform ziepte nicht und sah nie so ausgebeult aus wie meine. Aber der größte Unterschied war einer, den man von außen nicht so schnell erkennen konnte. Ich meine, wenn ich alleine vor den Schließfächern stehen würde, sähe ich aus wie der totale Loser. Nicht so Ami. Sie stand da, musterte in aller Ruhe alle, die um sie herumwuselten, und hatte dieses fette Grinsen im
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher