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Die unsichtbare Handschrift

Die unsichtbare Handschrift

Titel: Die unsichtbare Handschrift
Autoren: Lena Johannson
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war vollkommen unüblich, dass ein Bischof einen Schreiber damit beschäftigte, seinen Lebensweg aufzuzeichnen. Zumindest, wenn es sich um einen Mann einfacher, ja geradezu dubioser Herkunft handelte. Für derlei Aufgaben hätten jederzeit die Mönche zur Verfügung gestanden. Doch der Missionsbischof war von Kindesbeinen an als höchst eigensinnig bekannt. So scherte er sich nicht darum, was üblich war oder nicht, sondern tat, was er für richtig hielt. Da er stets ein gottesfürchtiger Mann gewesen war, tat er viele gute Dinge und genoss trotz seiner manchmal wahrlich eigentümlichen Entscheidungen ein hohes Ansehen.
    Sie hatten die Tür zu dem Schlafgemach des Bischofs erreicht. Heilwig musste schlucken. In welchem Zustand würde sie ihren Großvater vorfinden? Viel zu lange hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Sie erinnerte sich an einen Mann mit Pausbäckchen und blauen Augen, dessen Haar die Farbe von Herbstlaub hatte. Der Schreiber öffnete die hohe, mit Schnitzereien verzierte Holztür. Er ging zur Seite und ließ sie passieren. Heilwig trat auf das kunstvoll gedrechselte Bett zu, über dem ein Baldachin schwebte. Sie hörte hinter sich die Tür ins Schloss fallen. Der Schreiber hatte sich zurückgezogen. Zu ihrer Überraschung hielt niemand bei dem sterbenden Bischof Wache. Sie war allein mit ihrem Großvater. An beiden Seiten seines Betts brannten Lichter in eisernen Ständern mit Krallenfüßen. Sie spendeten wenigstens ein bisschen Wärme. Heilwig kniete an seinem Bett nieder und küsste den Bischofsring, der lose auf dem Finger einer blassen Hand saß. Bernhard schlug die Augen auf.
    »Heilwig, gutes Kind, wie schön ist es, dich zu sehen.«
    »Großvater!« Sie lächelte ihn an. Seine Haut war wächsern, der sonst stets aufmerksame Blick etwas trübe, doch seine Stimme klang noch immer voll. Auch war er nicht eingefallen, sondern wirkte, als hätte er bis gestern noch gut und reichlich gegessen.
    »Du bist wohl allein gekommen?«
    Sie hatte sich vor dieser Frage gefürchtet. »Vater muss sich um politische Geschäfte kümmern. Du kennst ihn doch«, antwortete sie mit dünner Stimme. Er ersparte es ihr, nach ihren sechs Geschwistern zu fragen, die sie, wie beide nur zu gut wussten, hätten begleiten können.
    »Mein lieber Sohn Hermann konnte sich nie damit abfinden, dass ich mich für diesen Lebensweg entschieden habe. Deshalb ist er nicht mitgekommen. Und warum kann er das nicht? Weil er blind ist.«
    Heilwig schwieg. Es war kein Geheimnis, dass im gleichen Maße, wie sie ihren Großvater liebte, der Rest der Familie die Nase über ihn rümpfte. Er war das schwarze Schaf. Sie kannte keinen anderen Grund dafür, als dass er eben seinen eigenen Kopf hatte. Das galt auch für ihren Vater Hermann, weshalb die beiden wohl immer wieder aneinandergeraten sein mochten. Doch darüber war nie gesprochen worden.
    »Ich habe für ihn gebetet«, fuhr ihr Großvater fort, »dass unser Herrgott ihm ein Zeichen schickt, wie er mir vor vielen Jahren eines gesandt hat.«
    »Was meinst du damit, Großvater? Von welchem Zeichen sprichst du?«
    »Bring mir die Kissen von der Chaiselongue.« Er deutete in die andere Ecke des Raums.
    Gehorsam stand sie auf und trug zwei dicke Kissen, die mit goldenem Brokat bezogen waren, zu ihm.
    »Stopf sie mir in den Rücken, damit ich dich besser ansehen kann. Ich werde noch verrückt, wenn ich weiterhin den Baldachin anstarren muss.« Sie tat auch das. »Schon besser, ja, viel besser«, knurrte er zufrieden und atmete schwer. Bereits der Versuch, sich ein wenig aufzusetzen, hatte ihn angestrengt. »Und nun hol dir einen Stuhl her. Du willst doch wohl nicht die ganze Zeit vor deinem Großvater auf den Knien liegen. Die Reise war gewiss anstrengend. In deinem Zustand …«
    Heilwig hatte Mühe, den schweren hohen Lehnstuhl anzuheben. Das letzte Stückchen schob sie ihn über den Steinboden ganz nah an das Bett ihres Großvaters heran. Das Kratzen der Holzbeine hallte laut von allen Wänden des hohen Raums wider.
    »Ja«, sagte sie schnaufend, als sie sich zu ihm setzte, »der junge Graf hat mich unterwegs so manches Mal gepiesackt.« Sie legte ihre Hände auf ihren Leib und lächelte.
    »Du meinst, es wird ein Junge?« Bischof Bernhard schmunzelte.
    »Aber natürlich. Es ist unser erstes Kind, und Adolf ist doch ein gesunder Mann. Außerdem wünscht er sich so sehr einen Sohn.«
    »Darüber entscheidet Gott allein.« Er schloss die Augen, und Heilwig meinte schon, er wäre eingeschlafen.
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