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Spinnen füttern

Spinnen füttern

Titel: Spinnen füttern
Autoren: Rawi Hage
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Die dicken Bögen seiner Brauen durchbohrten ihre Brust wie indische Dolche. Die Teppiche deines Vaters waren immer in der Schwebe, und wenn er sich hinlegte, um die Sterne zu betrachten, berührte sein Kopf den Boden nicht. Mit seinem Turban konnte er Winde umleiten, mit den Spitzen des langen Schnurrbarts lenkte er seinen Teppich. Er flog hoch oben durchs Zeltgestänge, über die Ausrufezeichen und Gedankenstriche des Beifalls hinweg.
    In diesen Höhen kamen sich meine Eltern näher, bei einem gemeinsamen Trapezakt, der eine echte Erfolgsnummer wurde. Meine Mutter warf ihm ihr Seil zu, bis mein Vater es auf seinem Teppich gefangen hatte. Halt dich gut fest, Mariam!, rief er. (Er bestand darauf, ihren Namen – Mary – zu seiner biblischen Form zurückzuführen.) Und dann flog sie ihm hinterher, als glitte sie auf Wasser durchs All.
    Doch eines Tages lernte mein Vater einen Mann kennen, der, wie er selbst, einen Bart trug und ein langes Gewand. Der Mann kam aus dem Osten, so wie mein Vater. Sie sprachen über das Leben, den Tod, die Gefahren des Fliegens. In einer mondhellen Nacht erklärte mein Vater schließlich, er habe den wahren Glauben gefunden, die fliegenden Teppiche gehörten festgenagelt an den Boden. Teppiche, so hatte der Mann meinem Vater erklärt, seien dem Gebet vorbehalten, Akrobaten und aufgeblasene Gaukler hätten auf ihnen nichts zu suchen. Teppiche sind die heilige, dünne Kruste, die die Erde vom Himmel trennt. Mein Vater zog seine alten Gewänder an, sattelte das Kamel, rollte einen Teppich ein, der zum Fliegen nicht taugte, und verließ uns. Nichts hielt die Teppiche, die er zurückgelassen hatte, mehr auf dem Boden, sie trieben nach oben und standen unter dem Zeltdach wie winzige Kolibris. Sie flogen hierhin und dahin und scheuchten Vögel und Engel aus den Zipfeln des Dachs. Das einzige Bild meines Vaters ist ein Zirkusplakat, das ihn im Schneidersitz auf seinem fliegenden Teppich zeigt. Vor einem Hintergrund von applaudierenden Affen, grinsenden Katzen und grell geschminkten Clowns kringelt sich sein spitzer Bart.
    Nachdem mein Vater verschwunden war, stieg meine Mutter in die Seile, tagelang baumelte sie weinend und seufzend im Trapez. In dem weiten Netz, das sie über den Himmel spann, fing sie Clowns und Löwenbändiger, Schwertschlucker und den einzigartigen Krokodilmann, alle wurden von ihr umgarnt und in unseren kleinen Wohnwagen gezerrt, der hinter dem großen Zelt stand.
    Wenn sie ihre Spiele treiben wollte, wickelte sie mich in einen Kokon und versuchte, mich mit allerlei Beschwörungen in den Schlaf zu schicken. Doch ich rieb mir halb wach die Augen und fragte mich, wen sie wohl diesmal hereingelassen hatte: den Wolfsjungen oder den Skelettmann? Dann stieg ich auf einen Teppich meines Vaters, schwebte zur Decke und beobachtete aus der Vogelperspektive, wie sich meine Mutter in den Seilen eines anderen Akrobaten verfing, wie sie angekettet unter der Säge des Zauberers lag oder fauchend wie eine Löwin unter den hochgeschnürten Lederstiefeln ihres Bändigers. Und weil ich geschmeichelt war, dass selbst der Zirkusdirektor uns besuchte, und weil ich Freude an diesem Karneval der Fleisches hatte, am Stöhnen und kunstvollen Keuchen, blieb ich still und leise auf dem Teppich liegen, sah meiner Mutter zu und genoss, während vor meinem inneren Auge der Vater auf seinem Kamel durch die Welt zog, die Wonnen der Masturbation.
    Lange ließ uns die Frage nicht los, ob er lebend in der Heimat angekommen war, denn die Bärtige Dame hatte gesagt: Ein Kamel übersieht man nicht, Kamele bleiben niemals unentdeckt, zum Fliegen sind sie zu träge, sie sind zu geduldig, zu neugierig, zu störrisch und viel zu meinungsfreudig, sie gehen nicht vor Räubern in die Knie und lassen sich weder von Diktatoren unterwerfen noch von der Kälte verjagen.
    Wenn ich mich heute an meine Mutter erinnere und an die Nacktärsche, deren Gesellschaft sie suchte, wenn ich auf einem der Teppiche meines Vaters liege und über der Erde schwebe, sehe ich uralte, waffenstarrende Landschaften, ich sehe Blut und Schützengräben, wo Slawen und Deutsche, Römer, Assyrer, Araber, Türken, Kurden und Griechen gekämpft haben. Und wenn ich Länder entdeckte, wo junge Männer in den Krieg geschickt und von Frauen beweint wurden, wo ganze Völker – Millionen von Menschen – umgesiedelt, dem Hunger und den Flammen ausgeliefert wurden, dann landete ich, um eines Tages Zeugnis abzulegen, ich tat, was in meiner Macht stand,
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