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Spinnen füttern

Spinnen füttern

Titel: Spinnen füttern
Autoren: Rawi Hage
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Mutter
    Gezeugt wurde ich auf einer Zirkusreise, von einem Fahrenden, der ein Kamel besaß, und einer seiltanzenden Mutter. Es regnete draußen, als mich die Trapezkünstlerin mit dem goldenen Haar unter dem Applaus der Elefanten und Seehunde aus sich herausstieß, die Karawane war gerade im Aufbruch. Sie legte mich an ihre Brust und fuhr mit mir durchs ganze Land. Wir ließen uns von Clowns veralbern und hörten das bittere Lied eines alten Zwergs, der mir ein Leben der Wanderschaft unter Spinnen und wilden Tieren prophezeite.
    Der Zirkusdirektor jedoch hatte anderes mit mir vor. Uns fehlt ein Muskelmann, uns fehlt ein Löwenbändiger, sagte er und nahm mich aus den Armen der Mutter, um meine Schenkel und meinen Schädel abzutasten. Doch mein Talent lag anderswo. Früh lernte ich unter den Zeltdächern das Hellsehen, bald zog der Ausrufer auf dem Jahrmarkt den hohen Zylinder und rief: Treten Sie ein, meine Damen und Herren, erleben Sie das hellsichtige Kind! Ihr Geld zurück, wenn es ihm nicht gelingt, Ihr Gewicht und Alter zu erraten und die Anzahl der Jahre, die Sie noch unter den Lebenden weilen werden, bevor man Sie zu Grabe trägt. Ich, der ich lernte, das Gewicht nach der Größe der Füße zu schätzen, nach dem Kneifen des Gürtels, nach der Schwere der Lider und der Fülle der Wangen – ich wurde ein Sehender, ich sah meine Mutter hängen und meinen Vater unter dem Gewicht seines eigenen Barts stürzen.
    Als mein Vater fortgewandert und meine Mutter gestorben war, gehörte ich dem Zirkus, ich umstrich die Knöchel sanfter Riesen, die kurzen Hände der Zwerge und das liebevolle Wesen der Missgebildeten. Früh lernte ich, Seile zu sichern und dem Affen die Fliege zu binden. Ich entlockte den Drachen ein Lachen, indem ich die Haut des tätowierten Mädchens auseinanderzog, und spielte mit dem durchschnittlich großen Sohn der kleinsten Frau und des größten Mannes der Welt. Ich wuchs unter den runden Zeltdächern auf, im Wechsel der Zirkusnummern, auf den Rüsseln der Elefanten überquerte ich Grenzen und durchwanderte ferne Länder.
    Ich lernte zu sehen, und ich lernte zu töten.
    Hellsichtiges Kind, so rief mich die Dicke, du hast mir den Tag gerettet, du hast erraten, wie leicht mein Geist ist unter der Last meines Körpers. Sie küsste mein strahlendes Gesicht und trat vor das Zelt, sie spürte die Wolken in ihrem Haar und streichelte die Vögel, die über den Himmel glitten. Doch als der Winter kam und die Zelte abgebaut waren und wir uns hungernd um schwache Feuer scharten, tötete ich ein Pferd und verfütterte es an die Raubtiere.
    Nager
    Seit fünf Jahren wohne ich in einem Haus, in dem es summt und wimmelt, seltsame Menschen gehen ein und aus, Nager und Insekten. Links von mir wohnt eine Rumänin, eine ehemalige Turnerin, die nun bedürftig und einsam ist, weshalb sie gelegentlich einem dicken, alten Arzt zu Willen ist, dessen Bart – wie auch seine stetig wechselnden Autos – immer mächtiger wird.
    Ich kenne ihn aus der Ambulanz. Bei meinem letzten Besuch fragte er nach den Krankheiten in meiner Familie und bat mich, auf seinem papierbedeckten Tisch Platz zu nehmen. Dann begann er, meinen Rücken abzuklopfen, drückte mit einem Einwegspatel meine Zunge herunter, hielt meine Hoden, bis ich ein-, zweimal kläglich hustete. Er runzelte die Stirn und kritzelte in meine Akte.
    Als er kopfschüttelnd zur Diagnose ansetzte, sagte ich: Doktor, Sie brauchen gar nichts zu sagen, ich muss ein bisschen abnehmen, glauben Sie mir, Doktor, ich weiß … Ich habe nämlich heute Morgen meine Fußgelenke betrachtet und meine Wangen im Spiegel … Wir haben alle unsere Schwächen, Doktor, in meinem Fall ist es wohl die Völlerei. Nur eine von sieben Todsünden, das ist doch gar nicht schlecht. Dabei bin ich gar nicht religiös … Ich habe es auch mit Glücksspiel versucht, das hat sich aber nicht ausgezahlt. Frauen bringen ohnehin nur Leid, und die Gier nimmt kein Ende … Oder wollen Sie mir sagen, Doktor, dass ich den Job wechseln sollte? Immerzu sitze ich im Taxi, ohne Pause, ohne sportlichen Ausgleich. Ich starre stundenlang auf die Straße, es macht mich ganz rammdösig … Manchmal spüre ich einen inneren … Hunger. Achtung, Doktor, das ist ein Witz! Ich bin ein Witz, eine Witzfigur, ich habe mein Leben vergeudet … Ist aber nicht meine Schuld, Doktor, und wer kann schon widerstehen? Was mich anzieht, ist all die bunte Reklame, die Flaggen und der ganze Rummel locken mich hinein in diese
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