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Spinnen füttern

Spinnen füttern

Titel: Spinnen füttern
Autoren: Rawi Hage
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zwei Gläsern zurück.
    Wir schenkten uns ein und tranken.
    Worüber hast du mit Aisha gesprochen, kurz bevor sie starb?, fragte ich.
    Verschiedenes, sagte er, ihre Familie, ihre Kindheit. Ihr war eingefallen, dass sie ihrer Nachbarin Mrs Rooney die Ilias vorgelesen hat. Nach den Schlachten haben die Griechen ihre Toten verbrannt, die Trojaner haben ihre beerdigt. Hat sie erzählt. Der Zustand der Leichen war auf beiden Seiten Anlass zur Sorge, sie mussten vor Raubvögeln und hungrigen Hunden geschützt werden … Einmal hat sie mich gebeten, einen Jazzsender im Radio zu suchen, aber es gab hier keinen. Darüber haben wir gelacht … Wenn es ihr ein wenig besser ging, haben wir geredet, wir haben schöne Gespräche über Musik oder Tanz geführt. Sie hat von einer Kurzgeschichte erzählt, die sie einmal gelesen hatte, über einen schwarzen Jazzmusiker, der viele Jahre auf der anderen Seite des Atlantiks gespielt hat, in Paris, und als er schließlich zurückkehrte, wurde er verfolgt und gelyncht … Dann fiel ihr ein, wie gern wir früher getanzt haben. Und sie hat von ihrem Vater erzählt. Einmal, als ich sie gefragt habe, wie es ihr ging, hat sie gesagt: Ich spüre endlich eine Art Frieden, jetzt, da es aufs Ende zugeht.
    Wir machen ein Feuer, sagte Otto plötzlich, er sprang auf und ging nach draußen. Er kam mit zwei Holzscheiten zurück. Statt Kleinholz brachte er eine Handvoll Laub, er legte das Holz darauf und zündete es an.
    Wir setzten uns und warteten auf das Feuer, aber es kam nur Rauch.
    Das Laub ist nass, sagte Otto. Gleich wird es trocken sein.
    Es war kalt und klamm in der Hütte.
    Wenn das Feuer brennt, wird es wärmer, sagte Otto.
    Erinnerst du dich noch an dieses Lied: »Between the Devil and the Deep Blue Sea«? Der große Thelonious, hast du immer gesagt, du hast ihn nie anders genannt. Das Lied ging so … Otto summte ein paar Takte und begann, mit dem Oberkörper zu schaukeln. Er schaukelte ohnehin immer ein wenig, wenn er trank. Welches Album war das nur, Fly?
    Straight, No Chaser , sagte ich.
    Ja, Bruder, du kennst dich aus. Straight, No Chaser wiederholte er mit einem Lächeln. Fly, du bist der Einzige, der noch übrig ist.
    Abgesehen von dir, sagte ich.
    Otto antwortete nicht. Das Gespräch erstarb, als das Holz Feuer fing, schweigend starrten wir in den Rauch.
    Ich schlug vor, etwas zu essen.
    Otto winkte ab und hob das Glas, ich verstand. Er hob das Glas, weil er die Stille des Ortes nicht stören wollte.
    Du kannst dich aufs Bett legen, wenn du müde bist, sagte er.
    Ich wollte nicht und schüttelte den Kopf. Doch als das Feuer im Kamin loderte, fielen mir bald die Augen zu. Ich schlief im Sessel ein, mit dem leeren Glas in der Hand.
    Otto weckte mich sanft und sagte: Leg dich aufs Bett, Fly. Ist viel bequemer.
    Ich leistete keinen Widerstand mehr und streckte mich auf dem Bett aus. Otto deckte mich mit seiner Decke zu.
    Ich hatte offenbar gerade geträumt, als der Schuss fiel, ich hatte seit zwei Wochen den immer gleichen, verstörenden Traum, der mir sehr wirklich und lebendig vorkam. Es war ein chaotischer Traum mit einer Menge Autos und einer heruntergekommenen Gegend, aus der ich zu fliehen versuchte. Immer wurde ich verfolgt, die Gesichter meiner Gegner sah ich nicht. Aber in dieser Nacht, daran erinnere ich mich genau, drehte ich mich um und stellte mich ihnen entgegen, entschlossen, den Spieß umzudrehen und zu kämpfen … Schweißgebadet wachte ich auf, mit einem Satz, der nachklang: Sie haben noch einen Mann ermordet . Die Opfer in meinen Träumen waren namenlose Männer, ausnahmslos.
    Es dauerte eine Weile, bis ich aus dem Traum in die Wirklichkeit der Hütte zurückgekehrt war. Ich orientierte mich am Herd, sah mich um, stellte fest, dass Otto nicht mehr da war. Ich ging nach draußen, um ihn zu suchen, er lag unter einem Baum. Ich rannte zu ihm, schloss ihn in die Arme. Ich kniete auf der Erde und wiegte seinen Kopf und spürte, wie das Blut über meine Hände rann.
    Lange blieb ich dort und hielt Ottos leblosen Körper, ich muss Stunden, vielleicht Tage dort gekniet haben, ich weiß es nicht mehr. Die Stunden und Minuten rasten mit unfassbarer Geschwindigkeit vorüber, es war wie eine Zeitreise.
    Ich kehrte zur Hütte zurück, zog ein Laken vom Bett und nahm eine Schaufel, die ich auf der Veranda gefunden hatte. Ich bedeckte die Leiche mit einem Laken, dann begann ich, in der weichen Erde ein Loch zu graben.
    Als ich das Grab zuschaufelte, begann es wieder zu regnen.
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