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Spinnen füttern

Spinnen füttern

Titel: Spinnen füttern
Autoren: Rawi Hage
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in meinen Wagen rettete. Die Dachleuchte blieb ausgeschaltet, ziellos fuhr ich durch die Stadt.
    Ich fuhr bis spät in die Nacht, wenn die Gesetzlosen die Straße bevölkern, tänzelnde Nachtschwärmer, die mit aufgestelltem Kragen, frisch geschminkten Lippen, in die Stirn gedrückten Hüten Filmstars imitieren oder Gangster. Ich ignorierte alles, was mit dem Kopf gegen meine Scheibe prallte wie geblendete Vögel, wie stumme Fledermäuse in einer insektenlosen Welt. Ich fuhr auf den Hügel, suchte die hell erleuchteten Straßen ab. Ich wusste, dass es sinnlos war: Ein Clown kann im Chaos des Karnevals untergehen wie fernes Gelächter. Erst als der Morgen nahte, fuhr ich nach Hause. Ich öffnete die Garage und fuhr zu meinem Parkplatz.
    Aus einer Ecke löste sich ein Umriss, ein Mann trat auf mich zu; es war Otto, er war in eine Decke gehüllt. Er sah aus wie eine zertrampelte Fledermaus, sein Bart war lang und zottelig, das Gesicht war bis in die Augenwinkel von tiefen Falten zerfurcht. Gebeugt stand er da, sein Gesicht wirkte alt, verblasst wie ein auf dem Speicher vergessenes Schwarz-Weiß-Foto.
    Ich dachte, es ist besser, ich bleibe hier unten, sagte er. Ich werde gesucht.
    Hast du Hunger?, fragte ich.
    Geht noch, sagte er.
    Ich könnte uns etwas holen, sagte ich.
    Lass nur, ich besorge mir unterwegs etwas.
    Wo willst du denn hin?
    Zu Aishas Haus, sagte er.
    Wir fuhren los, Otto versteckte sich auf der Rückbank unter seiner Decke. Ich fuhr Umwege durch leere Seitenstraßen, kreuzte durch die Innenstadt wie die schwarzgoldenen Nilschiffe, die den Pharao zum Begräbnis trugen. Als wir die Stadt hinter uns gelassen hatten, hielt ich an einer Tankstelle, kaufte Wasser, etwas zu essen und Schnaps. Otto setzte sich neben mich, griff sofort nach der Schnapsflasche und trank.
    Das hier muss aufhören, sagte er.
    Alles hört irgendwann auf, sagte ich, dann fügte ich mich der Stille. Bald wurden die Straßen schmaler, die Baumwipfel wiegten sich im stillen Morgengrauen. Wenige Autos kamen uns entgegen, sie schienen kein Ziel zu haben. Nichts regte sich, nur die Straße schien sich zu bewegen, sie führte uns in Kurven und verschwand unter der Motorhaube. Am Straßenrand erschienen Bäume wie aus dem Nichts, sie schossen vor unseren Augen auf, wischten vorbei, blitzten im Rückspiegel auf wie Filmbilder. Otto öffnete das Fenster, hielt sein Gesicht in den eiskalten Wind. Frische Luft, sagte er, ein frischer Wind für Nager und Höhlenbewohner, seine Stimme war laut genug, um das Pfeifen des geöffneten Fensters zu übertönen. Er schloss es, um sich eine Zigarette anzustecken, dann blies er eine Weile Rauch in die wirbelnde Luft.
    Die Erde ist feucht, sagte Otto, schau, alles ist grau. Wie ich das hasse, diese blasse Farbe. Das ist der Grundton der Glätte, der Unterwerfung, es ist die Farbe der Schlafsäle und Krankenhäuser und Gefängnisse. Meine Mutter kaufte uns graue Anzüge für die Beerdigung meines Vaters. Kinder dürfen nicht Schwarz tragen, meinte sie, Kinder sollen Grau tragen. Dann war auch sie eines Tages verschwunden. Ich habe sogar vergessen, wo sie begraben liegt. Fly, weißt du denn, wo deine Mutter begraben ist?
    An einem Fluss, sagte ich, irgendwo zwischen der Donau und dem italienischen Stiefelabsatz. Eine Kapelle spielte, die Trauernden trugen bunte Kleider.
    Bunte Kleider, was für ein Glück.
    Wir kamen an einen Fluss, Otto bat mich anzuhalten, er wollte einen Blick auf das Wasser werfen. Da vorn haben wir einen schönen Ausblick, sagte er, fahr hier ran, hinter dem Lastwagenparkplatz geht ein Weg ab. Zu dieser Tageszeit parkt hier niemand.
    Wir stiegen aus. Vom Fluss zog ein kalter Wind herauf, Otto störte sich nicht daran. Er bemerkte, dass ich zitterte. Hier, das hält warm, sagte er und reichte mir die Flasche. Ich nahm einen Schluck, dann fanden wir die Lücke im Gebüsch und stapften durch den Schlamm, bis wir ans Wasser kamen. An einer alten Brücke am felsigen Ufer rauschte die Strömung.
    Das hier muss aufhören, sagte Otto noch einmal.
    Das hier?, fragte ich.
    Das hier, ich. Diese Person. Dieses kleine Universum. Dieser unbedeutende Stern. Dieser flüchtige Strom. Dies alles muss aufhören.
    Wir fuhren zum Haus. Die Tür war nicht verschlossen.
    Hier muss noch irgendwo eine Flasche sein, sagte Otto, ich habe sie irgendwo versteckt. Aisha hatte ja mit dem Alkohol aufgehört, und sie hat sich Sorgen wegen meiner Sauferei gemacht. Er ging in die Küche und kehrte mit einer Flasche Rum und
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