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Spiel mir das Lied vom Wind

Spiel mir das Lied vom Wind

Titel: Spiel mir das Lied vom Wind
Autoren: Carola Clasen
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noch einen Zigarillo, und Modenschau Nummer drei folgte. Das Ergebnis übertraf die ersten beiden um Längen. Jeans, T-Shirt, Leinenblazer. Nicht gerade aufregend oder unkonventionell, es musste reichen. Es war keine Zeit mehr für einen neuen Durchgang, sie musste in Kall den Eifelexpress erwischen.
    An ihrer eingeschränkten Mobilität hatte sich noch nichts geändert. Immer noch ächzte sich jeden Tag der Woche ihr alter VW Polo bis zum Kaller Bahnhof und wieder zurück. Obwohl sie wiederholt zu spät zum Dienst erschien, was ganz klar der ÖPNV zu verantworten hatte, ließ der vom Kriminalkommissariat Euskirchen angekündigte Dienstwagen auf sich warten, als müsse er extra für sie konstruiert werden.
    Der Sülzburger Hof war eine typische Kölner Eckkneipe. Sie lag an einer Straßenkreuzung. Die Fensterscheiben bestanden aus dunklem Buntglas. An der Hauswand warben zwei Brauereien, Bitburger und Gaffel, um die Gunst durstiger Passanten. Es gab keine Außengastronomie, obwohl draußen Platz für ein paar Stühle und Tische war und im Mai die frühen Abende lau sein konnten.
    An der Eingangstür zum Sülzburger Hof stand
Raucherclub
, und Sonja bereute, die Zigarillos im Forsthaus liegen gelassen zu haben. Immerhin hatte sie an das vermaledeite Handy gedacht und es eingeschaltet, für den Fall, dass der Termin wieder einmal verschoben werden sollte.
    Sie stieß die Pendeltür bis zum Anschlag auf, und jemand sprang mit einem »Au« beiseite. Der Türknauf hatte einen Spieler am Automaten erwischt. Anklagend legte er die rechte Hand auf seinen Hintern. Er trug enge Jeans und ein weißes T-Shirt unter einer Lederjacke. Er verzog das Gesicht und brachte ein schiefes Lächeln zustande. Mit links warf er bereits die nächsten Münzen ein. Vielleicht hatte er einen Lauf.
    Sonja bezog Posten auf einem gepolsterten Hocker an der Theke. Sie war mindestens ebenso erschöpft wie aufgeregt und atmete einmal tief durch. Aber die Luft in der Kneipe war noch stickiger als sie im Eifelexpress gewesen war.
    Die letzte Bahn nach Kall fuhr um 22.05 Uhr. Wenn sie die Straßenbahnfahrt bis zum Kölner Hauptbahnhof einkalkulierte, musste sie spätestens um 21.30 Uhr dieses trostlose Etablissement wieder verlassen haben. Oder machte sie sich besser sofort wieder auf und davon? War sie verrückt geworden? Was machte sie hier eigentlich?
    Nach der Maxime
Warum eigentlich nicht?
hatte Sonja der zweifelhaften Vision einer Kartenlegerin nicht widerstehen können und Ende letzten Jahres einem wanderfreudigen, kochenden, reisenden, rotweintrinkenden 57-jährigen Kölner Büchernarren geschrieben, der im Kölner Stadt-Anzeiger ein Kontaktinserat geschaltet hatte. Obwohl ihre Zeilen an ihn kryptisch und kaum lesbar gewesen waren, hatte er postwendend geantwortet. Zu einem Treffen war es bis heute aber nicht gekommen.
    Unfassbare sechs Monate lang hatten die Kandidaten in unregelmäßigen Abständen telefoniert, Nettigkeiten ausgetauscht, Termine ausgemacht und wieder verschoben. Mal war es Sonja, die im letzten Moment der Mut verließ, mal war ihm etwas dazwischengekommen. Einmal erreichte seine Absage sie, kurz bevor sie – ebenso umständlich in Schale geworfen wie heute – das Forsthaus verlassen wollte, ein anderes Mal, als der Eifelexpress gerade in den Bahnhof Euskirchen einfuhr.
    Danach war eine längere Funkstille zwischen den Kandidaten eingetreten, weil Sonja es leid war. Aber er ließ nicht locker. Charmant und eloquent umgarnte er sie und sprach von der tieferen, geradezu schicksalhaften Bedeutung, die dem Nichtzustandekommen der gegenseitigen Inaugenscheinnahme innewohne. Sonja musste sich eingestehen, dass sie ebenfalls gern daran glauben wollte, und räumte ihm eine letzte Chance ein. Sie hatten sich auf den 4. Mai (18 Uhr) geeinigt. Das war heute. In einer halben Stunde.
    Dieses Mal endgültig, wie es schien, denn Sonjas Handy schwieg beharrlich. Zu früh am vereinbarten Ort zu sein, hatte nicht der Eifelexpress zu verantworten. Dies entsprach einem raffinierten Plan. Sie wollte noch die Möglichkeit zu einem Gang auf die Toilette haben, wo sie letzte Hand an ihr Äußeres legen konnte, und einem ersten Kölsch, bevor es zur gefürchteten Gegenüberstellung kam.
    Harry Konelly hieß ihr Termin.
    Das war fast alles, was sie von ihm wusste. Sie wusste nicht, wie Harry Konelly aussah. Harry Konelly wusste nicht, wie Sonja Senger aussah, obwohl einige Male von einem Foto-Austausch die Rede gewesen war. Ein Bild sage mehr als
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