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Spiel mir das Lied vom Wind

Spiel mir das Lied vom Wind

Titel: Spiel mir das Lied vom Wind
Autoren: Carola Clasen
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Namen war erst heute, am frühen Morgen des 4. Mai, in einem halbvollen Müllcontainer gefunden worden, in den eigentlich nur Verpackungsabfall mit grünem Punkt gehörte. Er war einfach entsorgt worden, wie ein Joghurtbecher.
    Der Müllcontainer stand zwischen zwei anderen Müllcontainern – einer für Papier und einer für allgemeinen Hausmüll – in Gemünd auf dem Parkplatz hinter einer Spielhalle. Die Fläche diente als Privatparkplatz für Gäste der Spielhalle und die Bewohner des anliegenden Hauses. Das Tor zur Einfahrt habe in der bewussten Nacht, wie so oft, offen gestanden. Es zeigt zur Urftseestraße.
    Der Mann im Müll war nackt, als er gefunden wurde. Kleidungsstücke oder Ausweispapiere lagen nicht unter oder neben ihm im stinkenden Müll. Auch nicht in den beiden anderen Müllcontainern, die sichergestellt worden waren. Er konnte bislang nicht identifiziert werden, weil niemand ihn vermisste. Keine der in letzter Zeit eingegangenen Vermisstenanzeigen wollte auf ihn passen.
    Gefunden hatte ihn die Putzfrau der Spielhalle, Anna Resch, 54 Jahre, wohnhaft ebenfalls in Gemünd, die vom 1. bis zum 3. Mai Urlaub hatte. Sie hatte gegen fünf Uhr in der Frühe die Papierkörbe leeren wollen, da habe er da zusammengekrümmt im Müll gelegen. Sie habe noch nie einen Toten gesehen. Angeblich stand sie noch unter Schock. Sonja fragte sich, woran Anna Resch sofort erkannt hatte, dass der Tote tot und nicht nur bewusstlos war? Denn Anna Resch hatte nicht den Krankenwagen, sondern sofort die Polizei gerufen.
    Was hatte sich in der Nacht abgespielt? Ein Tanz in den Mai der besonderen Art? Dagegen sprach, dass er nicht vermisst wurde. Niemand tanzte allein in den Mai. Dagegen sprach außerdem, dass er auffallend wenig Alkohol im Blut hatte. War er in der Spielhalle gewesen? In Spielhallen war Alkoholausschank verboten. Hatte er in der Nacht nicht gefeiert, sondern gespielt? Einsam und allein? Hatte er gewonnen und war anschließend ausgeraubt und ermordet worden?
    Sonja notierte die offenen Fragen, die ihr bei der ersten Durchsicht aufgefallen waren, auf ein DIN-A4-Blatt, legte es auf den Bericht des Rechtsmediziners und das Protokoll der Kollegen und schob alles zusammen in einen weiteren Aktendeckel, zurrte ihn fest und überlegte, ob sie
Müllmann
oder
Maikönig
darauf schreiben sollte. Das Kind brauchte einen Namen. Sie entschied sich für
Mann im Müll
und ließ die Akte auf ihrem Schreibtisch liegen.
    Sofort morgen früh wollte sie nach Gemünd fahren und mit den Nachforschungen beginnen. Morgen, ach was, heute Abend würde sie wissen, was es mit ihrem dubiosen Termin auf sich hatte, und sie könnte sich wieder voll und ganz in die Arbeit stürzen.
    Ein wenig hoffte sie fast, der Abend würde ein Reinfall werden. Nicht um sich seelisch auf eine böse Überraschung einzustellen, sie kannte sich zu gut. Sie würde es kaum schaffen, Herz und Hirn reibungslos miteinander zu verbinden. Sie sah wieder auf die Uhr.
    Noch sieben Stunden.
    Sie schob die Schubladen ihres Schreibtisches zu, sie schloss das Fenster, löschte die Lichter der Schreibtisch-und der Deckenlampe, sie nahm ihre Tasche. Als sie an Roggenmeiers Büro vorüberging, dachte sie, er solle sich bloß nicht aufspielen.
    Als sie die Glastür des Gebäudes aufschob, fragte sie sich, wer sie vermissen würde, wenn …? Roggenmeier! Darauf konnte sie verzichten. Wesseling! Seit Neuestem befördert zum Oberstaatsanwalt. Je nun. Wenn er wüsste, was sie heute Abend vorhatte, stünden ihm die Haare rund um seinen akkuraten Mittelscheitel zu Berge. Wer noch? Davis und West! Hund und Katze. Sie würden trauern. Aber auch bei ihnen stand der Eigennutz im Vordergrund. Wer sollte sie füttern?
    Zu Hause duschte Sonja ausgiebig. Sie legte Make-up auf. Sie drehte ihre Haare auf und frisierte sie mal so, mal so. Sie zog sich vierundzwanzigmal an und wieder aus. Sie bekam einen Hitzeanfall. Ihre Hände zitterten. Egal, was sie anstellte, sie gefiel sich nicht. Sie schaltete ihr Handy ein, wollte die gespeicherte Nummer wählen und absagen, aber im letzten Moment ließ sie es sein.
    Noch drei Stunden.
    Sie machte sich Kaffee, rauchte draußen auf der Ofenbank einen Zigarillo und traf eine Entscheidung. In der Ruhe liegt die Kraft. Alle Zeiger auf Null. Die Zeremonie begann von vorn. Duschen, Make-up, Haare, Kleidung. Das Ergebnis war besser, aber nicht gut. Doch das Konzept war gut. So gut, dass sie das Ritual ein weiteres Mal zelebrierte.
    Sie kochte Kaffee, rauchte
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