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Spiel mir das Lied vom Wind

Spiel mir das Lied vom Wind

Titel: Spiel mir das Lied vom Wind
Autoren: Carola Clasen
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geöffnet hätte, hätte sie sehen können, welchen Glücksbringer er daran trug.
    Er zog ohne Hinzusehen eine Zwei-Euro Münze aus der Jackentasche und legte sie auf den Handrücken.
    »Kopf oder Zahl?«, fragte er Sonja.
    »Kopf.«
    Er warf die Münze in die Luft und fing sie mit der Hand auf, umschloss sie mit den Fingern und öffnete die Faust.
    »Kopf!«, rief Sonja erfreut. »Und was habe ich gewonnen?« Sie schielte auf die Plastiktüte voller Geld.
    Er steckte die Münze wieder ein, beugte sich vor, tippte sich an die Stirn und sagte leise: »Mich, denn ich bin Harry Konelly.«

2. Kapitel
    Ausnahmsweise hat sie heute Morgen daran gedacht, mich zu füttern. Sie muss in Gedanken anderswo gewesen sein, denn sie hat mir mehr in meinen Napf gelöffelt als üblich. Dafür war das Futter älter und schon angetrocknet. Aber der Hunger treibt es rein. Ich bin von Haus aus ein Straßenkater. Ich bin nicht wählerisch, was das Futter angeht. Sonst schon.
    Nach dem Fressen gehe ich vor die Türe, gähne, strecke und recke mich und zähle eine Weile die Vögel auf den beiden Bäumen. Ich verliere den Überblick. Es sind zu viele. Ich überlege, wie ich da hochkommen könnte, ohne von ihnen gesehen zu werden. Als mir nichts einfällt, scheuche ich zum Spaß ein paar Bienen, Schmetterlinge und Fliegen durchs hohe Gras. Eine Art Verdauungsspaziergang.
    Für den Rest des Tages werde ich mich auszuruhen versuchen. Aber da laufen mir zwei junge Feldmäuse zwischen die Beine. Typisch, entweder gibt es tagelang nix zu fressen oder viel zu viel für einen Tag. Davis hätte es vergraben. Ich mache so was nicht.
    Ich liebe dieses Spiel, fangen, laufen lassen, fangen, laufen lassen. Wie sie dann piepsen vor Angst. Wenn sie nicht mehr können, verleibe ich sie mir bis auf die Schwanzspitze ein, mit Haut und Knochen. Die zweite schmeckt nicht ganz so gut wie die erste. Ich spüle mit ein paar Schlucken aus der Regentonne nach.
    Jetzt bin ich endgültig reif für ein Schläfchen. Ich springe auf meine Bank, rolle mich auf den Rücken und strecke der Sonne meinen dicken Bauch entgegen. Mir fallen die Augen zu. Ein laues Lüftchen streift mein Fell, in meinen Ohren raschelt, summt und zirpt es. Verlockende Geräusche. Ich könnte schon wieder, ach nein, später, mir laufen die Mäuse nicht weg.
    Bis auf die großen Vögel bin ich der Einzige, der sie jagt. Die Viecher schnappen sie mir manchmal vor der Nase weg, indem sie sich einfach aus dem Himmel auf sie herunterstürzen. Rums! Wie unfair. Da hat unsereins keine Chance. Ansonsten habe ich keine Konkurrenz. Meine Artgenossen habe ich erfolgreich vergrault. Und Davis ist nicht schnell genug.
    Ich bin der unumstrittene König in meinem Revier. Da kann ich auch mal in Ruhe ein Nickerchen machen.
    Ich führe hier – zwischen Wald und Feld – ein wunderbares Leben. Aber das täuscht. Mein eigentliches Zuhause, und damit meine ich das Haus, das in meinem Revier liegt und das mir noch im letzten Winter ein idealer Zufluchtsort gegen Hunger und Kälte und Langeweile und Einsamkeit war, ist nicht mehr das, was es einmal war. Der Wind hat sich gedreht.
    Vor allem sie, meine zweibeinige Dosenöffnerin, ist nicht mehr die, die sie einmal war. Wenn sie ein Kater wäre, würde ich sagen, sie hat Gift gefressen. So nennen wir das, wenn einer von uns völlig durchgedreht ist und die Orientierung verloren hat.
    Wenn ich nur daran denke, sträuben sich mir die Rückenhaare. Davis ergeht es nicht besser. Er tut, was er kann. Er knurrt, fletscht die Zähne und legt die Ohren an. Auch ich kann so viele Buckel machen, wie ich will, und den Schwanz bedrohlich aufrichten, es stört sie nicht. Sie sieht es nicht einmal. Das ist der Punkt. Wir existieren nicht mehr für sie.
    Darin sind Davis und ich uns endlich einmal einig. Unsere Vorstellungen von einem schönen Leben sind sonst sehr unterschiedlich. Außerdem sprechen wir nicht dieselbe Sprache. Davis ist ein Hund, und ich bin ein Kater. Aber ich war zuerst da. Und das zählt.
    Paaf! Die Haustür fällt zu. Sie geht an mir vorbei ohne ein Wort an mich zu richten und ohne mich zu kraulen. Sie holt ihr altes Auto aus der neuen Garage und fährt davon. Davis sieht ihr nach und wedelt mit dem Schwanz. Auch von ihm hat sie sich nicht verabschiedet.
    Zuerst war ich in solchen Momenten traurig und wusste nichts mit mir anzufangen. Mittlerweile bin ich geradezu erleichtert, wenn sie fort ist. Ich springe von meiner Bank, klettere sofort durch das Loch in der Tür
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