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Ein Haus für vier Schwestern

Ein Haus für vier Schwestern

Titel: Ein Haus für vier Schwestern
Autoren: Georgia Bockoven
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Prolog
    Oktober 2011
    Elizabeth trat in den Schatten einer riesigen, denkmalgeschützten Eiche, das Wahrzeichen dieses Friedhofs, der fast so alt war wie der Baum. Auf ihm lag die Elite der Stadt begraben, die historisch wichtigen und bedeutenden Persönlichkeiten von Sacramento in Kalifornien. Das parkähnliche Gelände, die stattlichen Grabmäler und die schlichten, aber durchaus kostspieligen Granitgrabsteine zeigten deutlich, dass die weniger vom Leben Bevorzugten kaum Chancen hatten, einen ihrer Lieben in einer solch illustren Gesellschaft zur letzten Ruhe zu betten. Die Regeln für eine Aufnahme waren streng und wurden unerbittlich eingehalten. Eine öffentliche Diskussion über ihren Sinn war undenkbar.
    Es hatte eine Zeit in ihrem Leben gegeben, da hätte Elizabeth diese Regeln hingenommen, ohne darüber nachzudenken. Doch heute war sie eine andere Frau als vor zehn Jahren.
    Sie war sehr zeitig zu diesem letzten Abschied erschienen, um mit ihren Gedanken allein zu sein, bevor die anderen kamen. Erinnerungen schienen ihr ein schwacher Trost für eine tiefe und bereichernde Freundschaft zu sein – und doch waren sie alles, was ihr blieb. Wie lange würde es wohl dauern, bis sie nicht mehr sofort zum Telefon griff, um etwas zu erzählen, was sie beide zum Lachen brachte oder in eine wehmütige Stimmung versetzte? Wann würde dieses stechende Gefühl des Verlusts seine Spitze verlieren?
    Eine kaum merkliche Bewegung bei den Azaleensträuchern erregte ihre Aufmerksamkeit: ein Monarchfalter in Orange und Schwarz. Die Schmetterlinge kamen jedes Jahr durch dieses Tal. Sie waren auf dem Weg zu einem Eukalyptuswäldchen an der Küste, ihrem Winterquartier. Dort ruhten sie sich aus und paarten sich, um vier Monate später den fast dreitausend Kilometer langen Rückweg in die Berge anzutreten. Vier Schmetterlingsgenerationen später begann der Kreislauf dann von Neuem.
    Elizabeth hatte gelesen, dass ein Zeitreisender theoretisch die Geschehnisse der Zukunft verändern konnte, indem er den Flugweg eines einzigen Schmetterlings beeinflusste. War das mit ihnen geschehen? War das der Grund dafür, dass ihr Leben vor elf Jahren aus den Fugen geraten war und sich dann völlig neu geordnet hatte? Nicht einmal ihre Vergangenheit war dieselbe geblieben.
    Früher hätte Elizabeth über die Vorstellung von Zeitreisenden und Schmetterlingen nur gelacht. Inzwischen war ihr das Lachen vergangen. Etwas hatte zu den Ereignissen des Jahres geführt, in dem sich alles veränderte – Schmetterlinge, schicksalhafte Fügungen oder unaufhaltsame Entwicklungen.
    Etwas hatte sie auf diesen Friedhof gebracht, wo sie plante, das Gesetz zu brechen.

1
    Lucy
    März 2000
    Lucy stand in der Tür des mit Kirschholz getäfelten Büros und starrte den einzigen Mann an, den sie je geliebt hatte. Nachdem sie zwanzig Jahre lang allein zu Bett gegangen war, stellte sie immer noch allnächtlich ihre Entscheidung infrage, ihm nichts zu sagen. Und jedes Mal stand sie am nächsten Morgen in dem Bewusstsein auf, dass Schweigen der einzige Weg war, ihn in ihrem Leben zu behalten. Was Frauen anging, gab es keine Kompromisse mit Jessie Reed – es gab nur Sex oder Freundschaft. Und Frauen hatte es wahrlich genug gegeben.
    Der Sex wäre mit ziemlicher Sicherheit gut gewesen. Besser als gut. So, wie sie ihn sich als Mädchen erträumt und später zu vergessen versucht hatte, als die Wirklichkeit ihren romantischen Vorstellungen nicht gerecht wurde.
    An dem Tag, an dem Jessie Reed damals in ihrer Anwaltskanzlei aufgetaucht war, hatte sie neununddreißig Lenze gezählt und versucht, ihren bevorstehenden vierzigsten Geburtstag zu verdrängen. Er wiederum war nach seiner zweiten Scheidung erst vor Kurzem nach Sacramento gezogen.
    Seine Intelligenz und die Unbeirrbarkeit seines Strebens nach Reichtum hatten ihn grundlegend von den Obdachlosen am Busbahnhof unterschieden, an denen sie jeden Morgen vorbeigekommen war. Seine Ziele hatte er mit einer Durchtriebenheit und Furchtlosigkeit verfolgt, die an Fanatismus grenzten. Muße war des Teufels und Freizeit eine Todsünde gewesen.
    Doch wie er jetzt seinen Kopf an das Lederpolster des Stuhls lehnte, mit seinem dicken silbergrauen Haar, das ihm über die Ohren reichte, und mit verschleiertem Blick, sah er verletzlich aus. Ein Wort, das normalerweise in Beschreibungen seiner Person ebenso wenig vorkam wie das Wort »wankelmütig«.
    Er öffnete seine Augen und sah Lucy durchdringend an. »Du bist spät dran«, sagte er. Die
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