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Der Tod wartet

Der Tod wartet

Titel: Der Tod wartet
Autoren: Agatha Christie
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Erstes Kapitel
     
    « D u siehst doch ein, dass sie sterben muss? »
    Die Worte wehten hinaus in die stille Nacht, schienen einen Moment in der Luft zu verharren und dann in der Dunkelheit hinunter zum Toten Meer weiterzuziehen.
    Hercule Poirot, die Hand schon am Fenstergriff, hielt stirnrunzelnd inne. Dann machte er energisch das Fenster zu, um die schädliche Nachtluft auszusperren. Hercule Poirot war in dem Glauben erzogen worden, dass man die Luft von draußen am besten draußen ließ und dass insbesondere Nachtluft der Gesundheit höchst abträglich war.
    Er lächelte nachsichtig, während er penibel die Vorhänge zuzog und sich zu Bett begab.
    « Du siehst doch ein, dass sie sterben muss? »
    Merkwürdige Worte, die Hercule Poirot, seines Zeichens Privatdetektiv, da zufällig an seinem ersten Abend in Jerusalem belauschte.
    «Dass ich aber auch immer und überall an Verbrechen erinnert werden muss!», murmelte er bei sich.
    Er schmunzelte, da ihm eine Anekdote einfiel, die er einmal über den Romancier Anthony Trollope gehört hatte. Auf einer Atlantiküberquerung hatte Trollope zwei Mitreisende belauscht, die sich gerade über die jüngste Folge eines Romans von ihm unterhielten, der damals in Fortsetzungen erschien.
    «Nicht übel», hatte der eine Mann erklärt. «Aber er sollte endlich dieses grässliche alte Weib um die Ecke bringen.»
    Woraufhin sich der Romancier mit einem breiten Lächeln zu ihnen umgedreht und gesagt hatte:
    «Meine Herren, ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet. Ich werde der Dame unverzüglich den Garaus machen!»
    Hercule Poirot fragte sich, was wohl der Anlass für die Worte gewesen war, die er soeben mit angehört hatte. Vielleicht die Zusammenarbeit an einem Theaterstück oder Buch.
    Noch immer lächelnd dachte er: «Man könnte sich eines Tages an diese Worte erinnern und ihnen eine finsterere Bedeutung beimessen.»
    Er entsann sich, dass eine seltsame Nervosität in der Stimme mitgeschwungen hatte – eine Art Zittern, das von starker emotionaler Anspannung zeugte. Die Stimme eines Mannes, eines ziemlich jungen…
    Als Hercule Poirot die Nachttischlampe ausknipste, dachte er bei sich: Ich würde diese Stimme jederzeit wieder e r kennen…
    Die Ellbogen auf das Fensterbrett gestützt und die Köpfe dicht beieinander, starrten Raymond und Carol Boynton in das nächtliche blaue Dunkel hinaus. Raymond wiederholte nervös seine Frage: «Du siehst doch ein, dass sie sterben muss?»
    Carol Boynton machte eine kleine Bewegung. Sie sagte, und ihre Stimme klang tief und rau: «Es ist schrecklich…»
    «Nicht schrecklicher, als es jetzt ist!»
    «Wahrscheinlich nicht…»
    «So kann es nicht weitergehen», sagte Raymond heftig. «Es kann so nicht weitergehen… Wir müssen etwas unternehmen… Uns bleibt nichts anderes übrig…»
    «Und wenn wir einfach weggehen würden?», fragte Carol. Sie merkte selbst, wie wenig überzeugend ihre Stimme klang.
    «Das können wir nicht.» Raymonds Stimme war hohl und mutlos. «Du weißt genau, dass das unmöglich ist, Carol.»
    Die junge Frau erschauerte. «Ich weiß, Ray. Ich weiß.»
    Er lachte plötzlich kurz und bitter auf.
    «Die Leute würden sagen, dass wir verrückt sind – nicht einfach auf und davon zu gehen…»
    Carol sagte langsam: «Vielleicht sind wir – tatsächlich verrückt!»
    «Allerdings! Ja, ich glaube, das sind wir wirklich. Oder werden es jedenfalls bald sein… Manche Leute würden sogar sagen, dass wir es bereits sind – stehen da und planen kaltblütig und in aller Ruhe, unsere eigene Mutter umzubringen!»
    Carol sagte scharf: «Sie ist nicht unsere leibliche Mutter!»
    «Nein, das ist wahr.»
    Beide schwiegen. Schließlich sagte Raymond, nun in ruhigem und sachlichem Ton: «Dann stimmst du mir zu, Carol?»
    Carol erwiderte mit fester Stimme: «Ich glaube, sie muss sterben – ja.»
    Dann brach es plötzlich aus ihr heraus: «Sie ist wahnsinnig… Ich bin ganz sicher, dass sie wahnsinnig ist… Wenn sie normal wäre, könnte sie uns doch nie und nimmer derart quälen. Seit Jahren sagen wir uns: So kann es nicht weitergehen! – Aber es ist so weitergegangen! Immer wieder sagen wir uns: Irgendwann muss sie ja sterben. – Aber sie ist nicht gestorben! Ich glaube, sie stirbt nie, wenn wir…»
    «Wenn wir sie nicht umbringen», ergänzte Raymond ruhig.
    «Ja.»
    Carols Hände auf dem Fensterbrett ballten sich zu Fäusten.
    Ihr Bruder sprach mit beherrschter, sachlicher Stimme weiter, in der nur ein leichtes Zittern
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