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Spiel der Schatten (German Edition)

Spiel der Schatten (German Edition)

Titel: Spiel der Schatten (German Edition)
Autoren: Michael Peinkofer
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Theatre gespielt.
    Zum allerletzten Mal …
    »Meine Kinder!«
    Als sie die Stimme ihres Vaters hörte, wusste Cyn, dass der Moment gekommen war. Sie kannte ihn gut genug, um zu bemerken, dass seine Stimme anders klang als sonst.
    Leiser.
    Vorsichtiger.
    Trauriger.
    »Bitte kommt zu mir, meine Kinder«, sagte Horace Pence, der Besitzer des Puppentheaters an der Holywell Lane, und winkte seine Angestellten zu sich heran, die für ihn und Cyn tatsächlich sehr viel mehr waren – ihre Freunde, ihre Familie. So wie das Penny Theatre ihr Zuhause war, ihre Heimat …
    »Was gibt es denn, Horace?« Das Doppelkinn neugierig vorgereckt, trat Lucy näher, Cyn noch immer im Arm. Auch Albert kam und Hank, der die Marionetten von Lysander und Peter Squenz noch in den Händen hielt. Und die schweigsame Nancy, die ebenfalls als Puppenspielerin arbeitete, aber auch für die Kostüme und die Kulissen im Theater zuständig war. Ihre Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst, was die Narbe, die quer über ihr bleiches Gesicht verlief, noch mehr betonte. Vielleicht, dachte Cyn, ahnte sie schon, dass es keine guten Nachrichten waren, die Horace Pence für seine Familie hatte.
    Cyns Vater saß auf einer der großen Kisten, die sich hinter der Bühne stapelten und die die vielen Puppen, Dekorationen und Requisiten enthielten, die im Lauf der Zeit zusammengekommen waren – alles, was man brauchte, um die Zuschauer in eine ferne Welt der Fantasie zu entführen.
    Sofern sie sich entführen ließen …
    Die Tatsache, dass Cyns Vater noch das Kostüm anhatte, das er als Elfenkönig Oberon getragen hatte, komplett mit der goldfarbenen Krone, die sein schlohweißes Haar bekränzte, verlieh der Situation etwas Unwirkliches. Auch hatte er den Puck noch auf dem Arm, die einzige Bauchrednerpuppe des Theaters, die mit ihrem koboldhaften Äußeren, ihren putzigen, aus Apfelholz geschnitzten Zügen, ihren großen Kulleraugen und ihren kecken Pausbacken einst der Liebling vor allem der jüngeren Zuschauer gewesen war.
    Natürlich hatte jeder gewusst, dass der Puck nur eine Puppe war. Aber wenn Cyns Vater ihn spielte, so wirkte es stets, als ob dem nur knapp zwei Ellen großen Waldgeist tatsächlich Leben innewohnen würde, eine eigene Seele. Und das nicht nur, weil Horace Pence die Kunst des Bauchredens meisterlich beherrschte, sondern auch, weil es ihm stets gelang, einen Teil seines eigenen Selbst auf die Puppe zu übertragen.
    So kannte Cyn ihren Vater – als einen lebensfrohen, vor Fantasie sprühenden Menschen, der seine Arbeit liebte und sich darüber trotz seiner vielen Lebensjahre eine kindliche Freude bewahrt hatte, die man bei den meisten Erwachsenen vergeblich suchte. Doch an diesem Abend war nichts davon zu sehen – weder in Horace’ wässrigen, durch die Gläser einer rundglasigen Brille blickenden Augen noch im Wesen des Puck, der reglos auf seinem Schoß saß und scheinbar ratlos vor sich hin blickte.
    »Meine lieben Freunde«, sagte Cyns Vater, als sich alle um ihn versammelt hatten. »Es gibt etwas, das ich euch mitteilen muss. Etwas, dass mir …« Die Stimme brach ihm, und er verstummte, schien um Fassung zu ringen. Auch Cyn kämpfte bei diesem Anblick wieder mit den Tränen, worauf Lucy sie noch ein wenig fester in den Arm nahm und herzlich drückte.
    »Was der gute Horace euch zu sagen versucht«, ergriff daraufhin der Puck das Wort, wobei sich nur der Mund der Puppe bewegte, der kleine Körper aber nach wie vor unbewegt dasaß, »ist, dass wir am Ende sind. Das Theater ist pleite. Bankrott. Ende der Vorstellung.«
    Der Kobold sprach mit der üblichen putzigen und irgendwie näselnden Stimme, doch niemand lachte. Im Gegenteil – hätte der Puck das Ende der Welt verkündet, hätte die Reaktion nicht heftiger ausfallen können.
    Die Zeit schien still zu stehen.
    Niemand sprach mehr ein Wort.
    Totenstille herrschte.
    Cyn war selbst überrascht, wie rasch und unbarmherzig ihr Vater die schreckliche Neuigkeit bekanntgegeben hatte. Aber schließlich war nicht er selbst es gewesen, sondern der Puck, der in vieler Hinsicht freier sprechen konnte. Und ob er sie nun schonend aussprach oder ganz direkt, es änderte nichts am Ergebnis.
    »Ist … das wahr?«, fragte Lucy nach einer Zeit, die Cyn wie eine Ewigkeit vorkam.
    Horace nickte und blickte zu Boden. Er brachte es nicht über sich, seinen Angestellten in die Augen zu sehen. »Leider«, bestätigte er flüsternd. »Ich habe die Kassenbücher unzählige Male
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