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Spiel der Schatten (German Edition)

Spiel der Schatten (German Edition)

Titel: Spiel der Schatten (German Edition)
Autoren: Michael Peinkofer
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allen Dingen … wollte sie nicht allein sein. »Ausgerechnet heute?«
    Ein schwaches Lächeln huschte über Horace’ Gesicht. »Nur noch heute«, verbesserte er. »Ein letztes Mal.«
    »Gut«, sagte sie. »Aber pass auf dich auf, hörst du?«
    »Keine Sorge«, antwortete er und ging in Richtung Garderobe, um sich abzuschminken und umzuziehen. »Der Puck ist ja dabei, er passt schon auf mich auf.«
    Cyn nickte und sah ihm nachdenklich hinterher – und für einen Moment hatte sie das schreckliche Gefühl, dass sie ihren Vater niemals wiedersehen würde.

3
    RUHELOS
    Es wurde ein langer Spaziergang – so ausgedehnt wie die Gedanken, die Horace Pence durch den Kopf gingen, während er durch die nächtlichen Straßen von London ging.
    Vorbei an den Bars und Tavernen, in die die Arbeiter und Handwerker ihren hart verdienten Lohn trugen, und den Costermongern , an deren dampfenden, oft ziemlich streng riechenden Straßenständen man für wenig Geld einen vollen Magen bekam. Die meisten der kleinen Läden, die sich entlang der Commercial Street aneinanderreihten, hatten um diese späte Stunde bereits geschlossen, von den Pfandleihen abgesehen, in die man die eigene Habe tragen und für ein paar Shillings beleihen konnte, so wie der alte Horace das Theater und sein gesamtes Inventar beliehen hatte.
    Mit Wehmut im Herzen musste er an Fay denken – was, in aller Welt, hätte sie dazu wohl gesagt? Hätte Cyns Mutter ihn beschuldigt? Ihm Vorwürfe gemacht?
    Sicher nicht.
    Sie hatte ebenso wie er den Traum von einer anderen, besseren Welt geträumt, einer Welt, in der Schönheit und Fantasie das Elend und die Gier besiegten, die im östlichen Teil von London herrschten. Wann immer das Licht im Saal erlosch und das Spiel begann, hatten die Zuschauer die Nöte und Sorgen der Welt um sich herum vergessen können, so wie auch Horace sie stets vergessen hatte, selbst damals, als Fay von ihnen gegangen und Cyn und er zurückgeblieben waren. Anfangs war er verzweifelt gewesen, hatte sich nicht vorstellen können, ohne seine geliebte Frau weiterzumachen, aber seine Liebe zum Spiel, zum Theater und zum Applaus, hatte ihm die Kraft und den Mut gegeben, dem Leben weiter zu trotzen und Cyn ein guter Vater zu sein – doch nun hatte man ihm auch das genommen.
    Ihr gemeinsamer Traum gehörte nun einem ruchlosen, im ganzen Viertel berüchtigten Ganoven namens Desmond Brewster.
    Was Horace jetzt anfangen sollte, wusste er nicht.
    Das Puppentheater an der Holywell Lane war sein Leben gewesen, seine ganze Leidenschaft – einen Plan, was danach kommen sollte, hatte er nicht. Cyn und den anderen hatte er gesagt, dass er sich nur ein wenig die Füße vertreten wollte. In Wirklichkeit war Horace vor den anderen geflüchtet.
    Er schämte sich für sein Versagen, gab sich die Schuld am Bankrott des Theaters, und hatte den Menschen, die er liebte, nicht mehr länger in die Augen sehen können, am allerwenigsten Cyn. Statt seiner Tochter Mut zuzusprechen und sie zu trösten, war er feige getürmt – und das nur, um nicht zeigen, um ja nicht eingestehen zu müssen, dass sein Scheitern und das Ende seines Traumes ihn noch ungleich mehr betrübte als alle anderen.
    So irrte er ruhelos durch die nächtlichen, von Rauch und Nebel verhangenen Straßen, Tränen der Verzweiflung in den Augen und den Puck auf dem Arm, was ihm bisweilen verwunderte, manchmal auch mitleidige Blicke eintrug.
    Vom Bahnhof von Bishopsgate ging er zum Spitalfields Marktplatz, von dort die Brushfield Street hinab und an der riesigen, sich in Nebel und Dunkelheit wie ein aus Backsteinen geformtes Gebirge ausnehmenden Liverpool Station entlang, getrieben von seinen Gedanken und den Schuldgefühlen, die ihn plagten. Zum ungezählten Mal fragte er sich, wie es so weit hatte kommen, wie er all dies nur hatte zulassen können.
    Anfangs war es kaum zu bemerken gewesen, dass immer weniger Zuschauer ins Theater kamen – die Bänke waren lediglich ein bisschen weniger voll gewesen. Dann jedoch waren hier und dort Lücken entstanden, und schließlich waren immer mehr Plätze leer geblieben. Horace hatte daraufhin neue Stücke ins Programm genommen, hatte Nancy neue Puppen in farbenfrohen Gewändern bauen lassen und dafür viel Geld ausgegeben – doch aus den leeren Plätzen waren leere Bänke geworden, aus den leeren Bänken leere Reihen.
    Die Frage, ob man es hätte aufhalten können, spielte keine Rolle mehr, es war zu spät. Dennoch stellte sich der alte Horace immer und immer wieder die
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